Hagen/Bayreuth. Wagners Heldinnen sind ehrenwert und stark – die Männer dagegen: unsympathisch, gierig, gewalttätig. Ein Überblick über die Helden 2017.
Während die Frauengestalten in den Opern Richard Wagners stark, mutig und empfindungsfähig sind, fallen die Männer nicht selten durch unsympathische Charaktereigenschaften auf. Sie sind gierig, gewalttätig und gefangen in Neurosen. Sie sind in ihren Verwerfungen ungebrochen aktuelle Figuren. Diese Helden spielen bei den Bayreuther Festspielen 2017 eine Hauptrolle:
Siegfried, der Drachentöter, ist die deutscheste aller deutschen Heldengestalten. Bei Richard Wagner hat er in „Siegfried“ und der „Götterdämmerung“ jedoch viel von einem asozialen Quälgeist. Vater- und mutterlos aufgewachsen, erschlägt er jeden, der ihm in die Quere kommt. Aber Muskeln allein reichen nicht, man braucht auch Hirn. Siegfried fällt in der „Götterdämmerung“ auf eine dämliche Intrige herein, die ihn schließlich das Leben kostet. Frauen sind dem Helden anfangs fremd. Wenn er Brünnhilde schlafend auf ihrem Felsen erblickt, ruft er „Das ist kein Mann!“ - bis heute einer der genialsten Opernsprüche.
Wotan, der Göttervater, hat alles, doch das ist nicht genug, er will mehr. Er will den Ring, den Alberich aus dem Rheingold geschmiedet hat, das er sich durch Liebesverzicht sozusagen redlich erworben hat. Aus Gier wird Wotan vertragsbrüchig und setzt damit eine Ereigniskette in Gang, an deren Ende die Welt brennt. Wagners Wotan meint, dass Regeln für ihn nicht gelten, weil er ja der Göttervater ist. Doch gerade weil er in dieser Eigenschaft über die Gesetze wacht, müsste er sie einhalten, wenn die Welt Bestand haben soll. Wotans maßlose Machtgier, seine Liebelosigkeit, gegen die er mit Affären nicht ankommt, seine Unruhe, sein Getriebensein wirken in ihrer Ambivalenz erschüttern aktuell.
Parsifal ist der reine Tor. Von seiner Mutter vaterlos alleine im Wald aufgezogen und völlig unwissend gehalten, kennt er die Regeln nicht, kennt noch nicht einmal seinen eigenen Namen. In die Welt der Gralsritter führt er sich in der gleichnamigen Oper äußerst roh ein, indem er einen heiligen Schwan tötet. Parsifal muss eine Heldenreise absolvieren, die den Konflikt zwischen Lust und Pflicht zum Thema hat. Seine Aufgabe ist es, den unheilbar verwundeten Gralskönig Amfortas zu heilen, damit das System der Gralsritter fortexistieren kann. Auf Parsifal lastet ein gewaltiger Erlösungsdruck. Dieser Erlösungsdruck macht Wagners Bühnenweihfestspiel auch heute noch so aktuell.
Frau Willers kleines Festspiel-ABC
A – Akustik
Das Festspielhaus auf dem grünen Hügel hat die berühmteste Akustik der Welt. Nirgendwo sonst klingen Wagners Opern so gut. Warum? Der Bau ist ganz aus Holz, auch die Bestuhlung, Seitenlogen gibt es nicht, ebenso wenig gepolsterte Sessel oder eine Klimaanlage. Dafür sitzt der Wagnerianer aber wie mitten im Radio.
B – Buhrufe
Gehören in Bayreuth dazu und sind berüchtigt. Der typische Buhrufer trägt Smoking und nutzt seine Eintrittskarte, um sich mal richtig auszubrüllen. Oft gibt es regelrechte Kämpfe zwischen Bravo-Klatschern und Buh-Rufern. Letzteren sind die Inszenierungen meist zu modern, die anderen erwarten innovative Interpretationen. Der Konflikt ist unlösbar. Unangenehm wird es, wenn Sänger zum Ziel von Buh-Orkanen werden.
C – Chor
Der Bayreuther Festspielchor gilt als der beste Chor der Welt. Er kommt nur im Sommer zusammen und besteht aus 58 Sängerinnen und 76 Sängern. Fast alle von ihnen haben ein Gesangsstudium abgeschlossen, die meisten wirken in deutschen und internationalen Theatern als Solisten, aber auch Studenten erhalten mitunter beim Vorsingen eine Chance, wenn sie gut sind.
D – Dresden
Richard Wagners Persönlichkeit ist widersprüchlich und bis heute umstritten. Er ist einer der bedeutendsten Komponisten, die je gelebt haben. Aber seine Persönlichkeit war nicht nur sympathisch. Besonders sein Antisemitismus stößt ab, weil der ihn nicht daran gehindert hat, sich von jüdischen Förderern unterstützen zu lassen. Wagner war aber auch ein Revolutionär. Im Frühjahr 1849 brennt die Semperoper in Dresden. Wagner steht mit auf den Barrikaden, hat sogar Handgranaten für den Maiaufstand besorgt, er läuft im Schwarzen Block mit, wie man heute sagen würde. Danach sucht die Polizei ihn steckbrieflich, er flüchtet mit seiner Frau in die Schweiz, beginnt mit der Komposition des „Ring“ und beginnt eine verhängnisvolle Affäre mit Mathilde Wesendonck, der Frau seines reichen Gönners und Förderers Otto Wesendonck. Aus dieser Dreiecksbeziehung entsteht die Idee zum „Tristan“.
E – Enge
Eng und stickig ist es im Festspielhaus, ohne Frage. Die Holzklappstühle bieten nicht viel Sitzfläche, der Hintermann pustet einen in den Nacken; auch kleine Leuten kommen mit ihren Knien der Vorderlehne in die Quere. Aber Platzangst nimmt man gerne in Kauf wegen der Akustik.
F – Festspiele
Die Richard-Wagner-Festspiele sind das älteste Musikfestival der Welt und das einzige Musikereignis in Deutschland von internationalem Rang. Der Komponist Richard Wagner gründete die Festspiele, um seine Vorstellungen von einem Gesamtkunstwerk zu verwirklichen. Seit 1876 gibt es das Sommertheater. Zur Eröffnung wurde der kompletten Ring des Nibelungen uraufgeführt. In Bayreuth werden folgende Opern von Richard Wagner im Wechsel neu Inszeniert: Der fliegende Holländer, Tannhäuser, Lohengrin, Der Ring des Nibelungen (mit den vier Teilen Das Rheingold, Die Walküre, Siegfried, Götterdämmerung), Tristan und Isolde, Die Meistersinger von Nürnberg und Parsifal. Eine Inszenierung ist vier bis fünf Jahre zu sehen und wird jeden Sommer neu überarbeitet. Daraus erklärt sich das Konzept der Werkstatt Bayreuth.
G – Grieg
Der Komponist Edvard Grieg gehörte neben Franz Liszt, Anton Bruckner, Karl Klindworth, Camille Saint-Saëns, Peter Tschaikowski, Lew Tolstoi, Paul Lindau, Friedrich Nietzsche und Gottfried Semper, Kaiser Wilhelm I., Kaiser Pedro II. von Brasilien und König Karl von Württemberg zu den Gästen der Eröffnung 1876. König Ludwig II., der das Festsipelhaus maßgeblich mitfinanzierte, besuchte die Generalproben. Wie die Damen in ihren Krinolinen die Strapazen der stundenlangen Vorstellungen bewältigt haben, ist nicht überliefert.
H – Hilchenbach
Das Gebrüder-Busch-Theater in Hilchenbach-Dahlbruch erinnert mit seinem Namen an eine der besten und anständigsten Dirigentenpersönlichkeiten Deutschlands, einen Musiker mit Rückgrat, an Fritz Busch, 1890 in Siegen geboren, 1951 in London gestorben. 1922 bis 1933 war der Siegerländer Generalmusikdirektor an der Semperoper in Dresden, bis ihn die SA vom Pult brüllte. 1924 dirigierte er erstmals in Bayreuth. Der 70jährige Karl Muck verhinderte eifersüchtig weitere Engagements. Das sollte Winifred Wagner ab 1933 sehr bereuen, denn Bayreuth hatte keine bedeutenden Dirigenten mehr. Der überzeugte Antifaschist Arturo Toscanini stand nicht mehr zur Verfügung. Winifred Wagner suchte verzweifelt ein „arisches“ Aushängeschild und sondierte bei Fritz Busch, der als Dirigent von Hitler hoch geschätzt wurde. Busch wiederum verachtete die Nazis, sagte ab, ging mit seiner Familie ins Ausland, gründete das Glyndebourne-Festival und wurde weltberühmt. Er liegt in Arolsen-Mengeringhausen begraben, dem Heimatort seiner Frau Grete geb. Böttcher.
I – Inszenierungen
Die Zeit der Flügelhelme und Bärenfelle ist vorbei. Manche Wagnerianer bedauern das. Bayreuth hat den Anspruch, die besten musikalischen Interpretationen der Opern Richard Wagners zu zeigen und dazu wegweisende Inszenierungen. Dafür werden auch opernfremde Künstler eingeladen. Das sorgt nicht selten im Vorfeld für große Aufregung bei der Wagner-Gemeinde. Mitunter wird dabei im Lauf der Jahre aus Hass Liebe. Nach der Premiere von Patrice Chereaus „Jahrhundertring“ 1976 kam es im Publikum zu Schlägereien; mit Unterschriftenlisten und Flugblättern wehrten sich Alt-Wagnerianer gegen diese Deutung, die den Ring in der Zeit der Frühindustrialisierung verortete. Heute gilt die Inszenierung als maßstabsetzend, bei der letzten Aufführung 1980 gab es Applaus von über neunzig Minuten Länge und 101 Vorhänge, beides bisher in Bayreuth ungeschlagene Rekorde.
J – Wagner macht hungrig. Doch wer erwartet, rund um das Festspielhaus würden den Reichen und Schönen die Austern auf dem Silbertablett serviert, der irrt sich. Fränkische Rostbratwurst frisch vom Grill ist seit über 100 Jahren der kulinarische Renner auf dem Grünen Hügel. Und wer sich in die lange Schlange einreiht, merkt schnell, dass Wagnerianer auch nur Menschen sind, die sich genauso vordrängeln können wie die Heavy-Metal-Fans in Wacken am Pilsstand.
K – Klofrau
Die Klofrau heißt Sieglinde, das ist kein Witz, sondern gehört auf dem Grünen Hügel wohl dazu. Seit Jahrzehnten führt sie in den Katakomben des Festspielhauses ein strenges, aber gerechtes Regiment. Die blitzsauberen Kabinen darf man sich nicht selber aussuchen, sie werden mit einem munteren Spruch zugewiesen, „ein Platz an der Sonne“. Wer Probleme hat, ist hier genau richtig. Die Toilettendame hält Deo, Hustenbonbons, Pflaster und Hygieneartikel vorrätig und näht im Notfall flugs abgetretene Säume oder abgerissene Träger wieder fest. Ihre Stammgäste kennt sie alle.
L – Lustwandeln
Ist der Ausdruck für die Lieblingsbeschäftigung der Wagnerianer in den Pausen. Wagners Opern sind lang, sehr lang. Nur der Fliegende Holländer und das Rheingold kommen ohne Pause aus. In den anderen Werken gibt es zwei einstündige Unterbrechungen. Die brauchen die Sänger, um wieder Luft zu kriegen. Das Publikum schritt früher gemächlich im Kreis rund um das Festspielhaus und hielt nach Bekannten Ausschau. Das geht jetzt wegen der Sicherheitsvorkehrungen nicht mehr. Also lustwandelt man im Festspielpark.
M – Merkel
Angela Merkel ist bekennender Wagner-Fan. Seit vielen Jahren ist die Kanzlerin Stammgast auf dem Grünen Hügel. Bei der Eröffnung der Festspiele sitzt sie ganz offiziell in der Königloge, zusammen mit anderen Prominenten und Politikern. Wenn sie kann, hängt sie meist noch ein paar Tage privat an. Und dann sitzt die Kanzlerin unerkannt im Saal, weil ihr die Akustik in der Loge zu schlecht ist. Angela Merkel geht es wie den meisten Frauen auf dem Grünen Hügel. Sie kauft sich nicht jedes Jahr etwas Neues, sondern trägt gerne ihre alten Abendkleider auf.
N – Nationalsozialisten
Richard Wagner war der Lieblingskomponist von Adolf Hitler. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde Bayreuth zum braunen Kult-Ort. Hitler liebte Wagners Helden, die in ihrer Gier und Gewalttätigkeit auf Schwächere keine Rücksicht nehmen, sondern ihre Pläne rücksichtslos durchsetzen, und wenn sie dafür die ganze Welt in Brand stecken müssen. Die deutsche Vorzeit mit ihren Mythen, Helden und Göttern bot eine Spielwiese für mannigfache ideologische Instrumentalisierung. Hitler wollte in seiner Wagner-Begeisterung sogar selbst eine Oper komponieren. Wenn er sich darauf konzentriert hätte, wäre der Welt wohl viel erspart geblieben. Richard Wagners Schwiegertochter Winifred leitete die Festspiele von 1930 bis 1944 und war bis zu ihrem Tod eine unbelehrbare Nazisse. Nach 1945 hatte der Grüne Hügel es schwer, sich von den braunen Verstrickungen zu befreien. Winifreds Söhnen Wieland und Wolfgang Wagner gelang es 1951, die Festspiele unter dem Schlagwort Neu-Bayreuth wiederzubeleben. Heute erinnern Gedenktafeln unterhalb des Festspielhauses an die „verstummten Stimmen“, an die jüdischen Künstlerinnen und Künstler, die in Bayreuth mit Aufführungsverbot belegt worden waren.
O – Orchestergraben
Der Orchestergraben gehört zum Geheimnis des Bayreuther Klanges. Er ist abgedeckelt, so dass das Publikum die Festspielmusiker nicht sieht. „Mystischer Abgrund“ nannte Richard Wagner den Abstand zwischen erstem und zweitem Proszenium, in dem sich der Schalldeckel verbirgt. Rund 200 Profimusiker aus deutschen und internationalen Orchestern spielen jeden Sommer in Bayreuth. Musikdirektor ist Dirigent Christian Thielemann. Man kann sich für einen Musikerjob in Bayreuth nicht bewerben, sondern man wird dazu eingeladen. Nur der Dirigent hat neben dem Orchester auch die Bühne im Blick. Im engen Orchestergraben ist es noch heißer und stickiger als im Saal. Deshalb, und weil man sie nicht sieht, spielen die Musiker in legerer Freizeitkleidung, oft in Shorts, auch der Maestro dirigiert so und zieht sich den Frack erst an, wenn er zum Applaus auf die Bühne eilt.
P – Provinz
Mit der Dampflok mussten die gekrönten Häupter seinerzeit mühselig nach Bayreuth anreisen, jenem abgelegenen bis dato unbekannten Städtchen in Oberfranken. Wagner siedelte sein Welttheater bewusst in der Provinz an, denn er wollte, dass die Künstler und das Publikum sich abseits des Metropolen-Trubels ohne Ablenkung und ohne die Kompromisse eines Repertoirebetriebs voll und ganz auf die Darbietung seiner Werke konzentrierten. Bis heute sorgt die ungünstige Lage der Festspielstadt für manchen Stoßseufzer; die Bahnverbindung ist immer noch schlecht.
Q – Querelen
Streit und Intrigen gehören zum Festspielhaus wie der Senf auf die Rostbratwurst. Der Wagner-Clan ist berüchtigt für seine Familienfehden. Schon Richard Wagners zweite Frau Cosima schaffte es, ihre Tochter Isolde, das erste gemeinsame Kind mit Richard, in einem Streit um Geld aus der Familie zu prozessieren.
R – Ring des Nibelungen
Der Ring des Nibelungen, kurz „Ring“ genannt, ist die Oper aller Opern: 16 Nettostunden Musik an vier Abenden mit vier Einzelwerken: Rheingold, Walküre, Siegfried, Götterdämmerung. Hans Knappertsbusch hält dabei einen Rekord, er hat 1951 4,40 Stunden gebraucht, um allein die Götterdämmerung zu dirigieren. Worum es geht? Alberich entsagt der Liebe, klaut das Rheingold, schmiedet daraus einen Ring. Den will Wotan haben, luchst ihn Alberich ab, hat ihn vorher schon den Riesen als Bezahlung versprochen, bricht aber dieses Versprechen, und dieser Vetragsbruch setzt Alberichs Fluch frei. Am Ende brennt die Welt.
S –Schwimmwagen
Richard Wagner war ein großer Freund von technischen Neuerungen und neu erfundenen Instrumenten. Die Rheintöchter waren 1876 an sechs Meter hohen Eisenstangen festgeschnallt. Diese waren auf Schwimmwagen montiert, die auf der Unterbühne hin und her gefahren wurden, während ein Assistent die Damen hoch und nieder kurbelte. Das hat nicht jede Rheintochter unversehrten Magens überlebt.
T – Tschaikowsky
Der Komponist Peter I. Tschaikowsky gehörte ebenfalls zu den Eröffnungs-Festspielgästen. Die damals 14.000 Einwohner zählende Stadt war vom Ansturm der Berühmten und Mächtigen offenbar überfordert. Tschaikowsky verdanken wir einen Augenzeugenbericht: „Jedes Stück Brot, jedes Seidel Bier musste erkämpft werden mit unglaublichen Anstrengungen, auch List und eiserner Geduld. Man hörte mehr von Beefsteaks und Bratkartoffeln als von Wagners Leitmotiven." Viel anders stellt sich die Lage am Bratwurststand in den Pausen auch heute nicht dar.
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