Hagen. Der Hagener Künstler Maurice W. vermisst angesichts der Massaker der Hamas in Israel Friedensmanifeste der Kulturszene. „Hass ist endlos.“

Wie so viele französische Intellektuelle seiner Generation, pflegt Maurice W. eine kultivierte Garderobe. Nur die Kappe ist kein Aspekt der Pariser Mode, sondern eine Verbeugung vor dem Urgroßvater, der mit seiner Nähmaschine aus dem polnischen Lodz kam, um in Paris Mützen zu nähen und auf Märkten zu verkaufen. Der Hagener Bürger W. ist viel: Hochdekorierter Tänzer, Performance-Künstler und Choreograph, Wanderer zwischen Frankreich und Deutschland, Ehemann, Vater. Aber seit dem 7. Oktober ist er vor allem eins: Ein Jude. Eine Zielscheibe. Deshalb ist es auch nicht möglich, im Interview den Namen zu verwenden, der im Pass steht.

„Ich komme aus einer nicht-religiösen Familie“, sagt er. „Ich bin als Humanist aufgewachsen.“ Dennoch hat Maurice W. mit 13 Jahren auf eigenen Wunsch Hebräisch gelernt, um seine Bar Mizwa feiern zu können, den Eintritt in die religiöse Mündigkeit, ähnlich wie bei den Katholiken die Kommunion oder bei den Protestanten die Konfirmation. „Der Holocaust ist ein sehr präsentes Thema meiner Herkunft und Familiengeschichte, ein Teil der Familie wurde ermordet.“ Als Heranwachsender war Maurice mit antisemitischen Beschimpfungen konfrontiert, „du dreckiger Jude, und da war noch ein Schimpfwort, das nicht in die Schule gehört, wie ich finde.“ Doch die Auseinandersetzung mit seiner Identität begann in erster Linie, als er im Jahr 1990 nach Wuppertal zog, um bei Pina Bausch zu tanzen. Es war die Zeit der Ausländerfeindlichkeit, der Neonazis, des Brandanschlags auf Solingen. „Da habe ich mich so einsam gefühlt, da habe ich versucht, eine Antwort zu finden auf die Frage: Wer bin ich? In den Augen von alten Wuppertalern habe ich versucht eine Antwort zu finden auf diesen unerklärlichen Antisemitismus.“

Philosoph unter den Tänzern

W.s Mutter ist 83 und hält noch ihren Laden in Paris, den der Urahn seinerzeit mit seinen Kappen begründet hatte. „Der Laden ist jetzt 63 Jahre am Ort. Manchmal kommen Kunden und sagen zu meiner Mutter: Wir gehen nicht in den anderen Laden, denn wir wollen nicht bei den Juden kaufen. Dann lächelt sie nur.“

Maurice W. gilt als der Philosoph unter den Tänzern, er hat eine viel beachtete Choreographie zum Holocaust erarbeitet, eine archäologische Spurensuche des Verstummens, „eigentlich ist es wie ein Kaddisch, ein Totengebet.“ Und ein Versuch, die Zeit zu überwinden. „A un ami inconnu. An einen unbekannten Freund“, so hat er das Solo genannt. „Das Stück kostet einen ein wenig die Seele.“ Wie kann es sein, dass nach dem Holocaust wieder Juden das Ziel von Massakern werden, diesmal seitens der Hamas. „Wie kann man das begreifen, diese Barbarei? Das ist unvorstellbar. Ich verstehe nicht, wie man das begreifen kann. Man kann das nicht begreifen.“ Und der Nahe Osten? Wird es Frieden geben? „Hoffnung gibt es immer“, sagt Maurice W. traurig und bitter zugleich. „Auf dem Tribe of Nova-Musikfestival in Israel haben die jungen Leute für den Frieden getanzt, bevor die Hamas kam.“

Sprache ohne Worte

Als Tanzkünstler kann Maurice W. versuchen, Aspekte des Grauens in seine Sprache zu übersetzen, die Sprache des Körpers, die keiner Worte bedarf, um verstanden zu werden. Das setzt den Willen voraus, zu verstehen, Grenzen zu überwinden. Er ist von Pina Bausch nach Bremen gegangen, zu den berühmten Choreographen Susanne Linke und Urs Dietrich. Er hat an dem vielfach preisgekrönten Opern-Projekt „Infinite Now“ des Regisseurs Luk Perceval nach Soldatenbriefen des ersten Weltkrieges mitgewirkt; in Hamburgs Innenstadt hat er sich für die Performance „Exil“ drei Tage lang in einen Container einsperren lassen.

Diese, seine Kulturszene kritisiert er jetzt mit deutlichen Worten. „Ich verstehe nicht, warum es keine Friedensmanifestationen gibt, bei allem, was passiert ist. Die Theater, die kulturellen Institutionen, sie alle lassen ihren Betrieb weiterlaufen, feiern ihre Premieren, es kommt kein Friedensaufruf, nichts. Da fehlen mir die Worte! Für was denken diese Kulturschaffenden, ist Kultur denn gut?“

Religion ist Zufall

Für W. ist es reiner Zufall, auf welcher Seite des Zauns ein Mensch geboren wurde, Christ oder Muslim oder Jude, Israeli, Palästinenser. „Wir wissen das, und wir lernen nichts draus. Wir sind lieber Feinde. Aber die Kultur hat Verantwortung. Kultur ist der Ort für Freiheit, wo Religionen nicht wichtig sind, wo es unwichtig ist, ob Du als Jude geboren bist oder als Palästinenser.“

In seiner künstlerischen Laufbahn hat Maurice W. immer wieder erfahren müssen, wie Hass und Vorurteile und Religionsvorschriften dennoch in die Kunst einbrechen. Und jetzt, hier im Hagener Alltag, vermisst er bei den Mahnwachen vor den Synagogen die muslimischen Köpfe, „wo sind sie?“

Rache ist endlos

W. ist ein Zeitgenosse aus Überzeugung, ein Mann, der sehr viel liest. Zum Thema Frieden sei alles schon gesagt, findet er: „Wir wissen, dass es immer einen Moment gibt, wo man aufhören muss, die Bomben zu werfen. Wo man sich an einen Tisch setzen muss, um zu reden. Wir wissen das. Momentan ist die Politik vor dem k.o. Rache ist endlos.“ Und er bringt die Herausforderung noch deutlicher auf den Punkt, trotz aller Mauern, aller Gräben, allem Hass: „Wir sind nun einmal alle miteinander auf der Welt. Und wir müssen zusammen leben.“