Kinder brauchen Geschichten, keine Belehrung oder Indoktrination. So lautete das Lebensmotto des Autors Otfried Preußler. Zum 100. Geburtstag.

Petrosilius Zwackelmann. Räuber Hotzenplotz. Diese Buchstaben tanzen geradezu über die Zunge. Wer ist der Schriftsteller, der solche Namen erfinden kann? Otfried Preußlers Bücher werden heute noch auf der ganzen Welt geliebt. Seine Geschichten kommen vordergründig harmlos daher, überraschen aber immer wieder mit unerwarteten Wendungen. Der Schöpfer von Krabat, kleiner Hexe, kleinem Wassermann, Hotzenplotz und mehr feiert am 20. Oktober seinen 100. Geburtstag. Eine Würdigung.

Es gibt im Räuber Hotzenplotz viele Situationen, die Kindern magische Welten eröffnen, die aber von Erwachsenen eher überlesen werden. Denn Otfried Preußler etabliert in diesen Bänden das, man könnte sagen spießige, Glück des kleinen Lebens. Jeder hat dort seinen Platz, der Wachtmeister Dimpfelmoser, die Großmutter, die Witwe Schlotterbeck, der Dackel Wasti, den die Schlotterbeck versehentlich in ein Krokodil verwandelt, Kasperl und sein Freund Seppel. Sonntags gibt es Pflaumenkuchen mit Schlagsahne, den Kaffee dazu mahlt Großmutter auf ihrer neuen Kaffeemühle. Wir begegnen dem Personal einer Kasperlebühne. Und es ist der Inbegriff einer heilen Welt.

Räuber Hotzenplotz mit sieben Messern träumt von Großmutters Kaffeemühle

Das sieht auch der gefürchtete Räuber Hotzenplotz mit den sieben Messern und der Pfefferpistole so. Er stiehlt der Großmutter die Kaffeemühle, weil er sich in seiner Räuberhöhle ebenfalls eine heile Welt einrichten möchte, damit er sich auf Strumpfsocken von der Mühsal des Auflauerns und Überfallens erholen kann. Illustrator F. J. Tripp möbliert die Räuberhöhle entsprechend mit einem geblümten Kaffeegeschirr. Und sogar der gemeine Zauberer Petrosilius Zwackelmann sehnt sich nach Häuslichkeit mit leckeren Kartoffelgerichten.

Tatsächlich war 1962, als der erste Hotzenplotz-Band erschien, die Welt gar nicht so heil. Die Kriegstraumata waren noch allenthalben präsent, Otfried Preußler selbst steckte in der Arbeit an Krabat fest, jener düsteren Erzählung, mit der er seine Erlebnissen im Nationalsozialismus verarbeitete.

Otfried Preußler verarbeitete die Sagen seiner Großmutter und die Kriegsgefangenschaft

Am 20. Oktober 1923 geboren, wuchs Preußler in Nordböhmen auf, zweisprachig, Tschechisch als Amtssprache, Deutsch als Sprache der Großmutter mit ihren Märchen, Liedern und Sagen. Wie seine Klassenkameraden meldete er sich nach dem Abitur 1942 direkt zum Kriegsdienst. Mit nur 21 Jahren geriet er 1944 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, für fünf lange Jahre. Um zu überleben, schrieb er. Im Juni 1949 wurde Preußler entlassen und fand in Oberbayern seine vertriebenen Angehörigen und seine Verlobte aus Reichenberg, Annelies Kind, wieder. Noch im selben Jahr feierten sie Hochzeit. Preußler wurde Volksschullehrer und erzielte seinen ersten großen Erfolg 1955 mit Der kleine Wassermann.

Otfried Preußlers „Krabat“ ist ein Klassiker – „Die Geschichte meiner Generation“

„Krabat“ ist sein Hauptwerk, heute ein Klassiker. Vom Pflaumenkuchen mit Schlagsahne der Großmutter könnte die unheimliche Mühle, in der die Handlung spielt, nicht weiter entfernt sein. Der Waisenjunge Krabat findet hier Unterkunft und Beschäftigung als Lehrbursche. Er merkt schnell, dass etwas nicht stimmt in der Mühle, wo der Müller seine Mühlknappen die schwarze Kunst lehrt, und doch macht er mit. Krabat ist ein Buch über Verführung, über Macht und Machtmissbrauch. Der Roman erschien 1971, nach zehn Jahren Arbeit. Otfried Preußler sagte: „Mein Krabat ist […] meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation und die aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken.“

Der deutsche Kinderbuchautor Otfried Preussler im September 1993.
Der deutsche Kinderbuchautor Otfried Preussler im September 1993. © picture-alliance / dpa | Ursula_Düren

Knapp zehn Jahre früher wurde der Hotzenplotz über Nacht ein Erfolg und ein Longseller bis heute. Es ist alles drin, was junge Leser lieben, kurze Szenen, spannende Abenteuer, tolle Figuren und lustige Wortspiele. Die Helden sind Kinder, sie meistern die Herausforderungen dort, wo die Obrigkeit versagt. Allerdings hieß es in den antiautoritären 1970er Jahren vielfach, Preußlers Bücher wären nicht politisch genug. Der Autor lehnte es jedoch ab, gesellschaftspolitische Ideen in Kinderbüchern zu transportieren. Preußler war als Lehrer und als Vater von drei Töchtern vielmehr überzeugt, dass Kinder Geschichten brauchen. Geschichten, die sie nicht ängstigen oder manipulieren, wo die Fee Amaryllis keine verzauberte Unke bleibt, wo der Pflaumenkuchen immer im richtigen Moment auf den Tisch kommt.

Otfried Preußler setzt mit dem Esel des Herrn seiner böhmischen Heimat ein Denkmal

Zu seinen weniger beachteten Büchern gehört „Die Flucht nach Ägypten. Königlich böhmischer Teil“, eine der schönsten Weihnachtserzählungen überhaupt. Preußler lässt die Heilige Familie von Bethlehem über Böhmen nach Ägypten fliehen und konfrontiert die biblische Überlieferung mit einer Überfülle an literarischer Ausmalung: da gibt es ausufernde kaiserlich-königliche Bürokratie, und es gibt den Oberteufel auf Probe Pospisil, der von der Hölle im Auftrag des Herodes auf die Heilige Familie angesetzt wird. Dieses Buch ist wie eine altmeisterliche Krippenszene, wo der Künstler nicht aufhören kann, mit hintergründigem Humor die Details der Christgeburt auszumalen, Stall, Krippe, Maria, Josef, das Jesuskind, Ochs und der Esel, der kurzerhand zum Esel des Herrn wird. Preußler setzt seiner Heimat Nordböhmen hier ein literarisches Denkmal, in dem der Heilige Wenzeslaus dem Jesuskind ebenso huldigt wie der Reformator Jan Hus und der Rabbi Judah Löw.

Die kleine Hexe von Otfried Preußler behauptet fröhlich ihre Individualität gegen den Druck aller anderen Hexen.
Die kleine Hexe von Otfried Preußler behauptet fröhlich ihre Individualität gegen den Druck aller anderen Hexen. © Thienemann Verlag | Thienemann Verlag

Ein Autor kann auch ohne hochtrabende Worte tiefe Geheimnisse berühren. Das ist die Kunst von Otfried Preußler. Fast alle seine Figuren sind Außenseiter, Unangepasste, die ihre Individualität verteidigen, so wie die kleine Hexe gegen die Muhme Rumpumpel, aber auf eine unverkrampfte Weise.

Debatte wegen veralteter Begriffe

Preußler war 2013 nach Astrid Lindgren einer der ersten Schriftsteller, dessen Werk eine Debatte wegen veralteter Begriffe auslöste. Denn in der Kleinen Hexe kam das N-Wort vor; der Autor konnte sich mit einer Änderung lange nicht anfreunden, doch dann schrieb der Vater eines schwarzen Mädchens dem Verlag einen Brief, wie sehr seine Tochter sich in der Karnevalsszene ausgegrenzt fühlte. Das konnte Preußler nicht ertragen. So hat er nach einem Bericht einer seiner Töchter kurz vor seinem Tod am 18. Februar 2013 vorgeschlagen, aus den verkleideten Dorfjungen kleine Messerwerfer zu machen. In Preußlers Büchern sollte kein Kind durch Sprache verletzt werden.

Der lustige Zungenbrecher Hotzenplotz ist übrigens keine Erfindung, sondern der deutsche Name der tschechischen Stadt Osoblaha. In Hotzenplotz 3 wird der Räuber seines anstrengenden Berufs müde, mit dem er es immer so preußisch genau genommen hat. Er eröffnet das Wirtshaus „Zur Räuberhöhle“. Auf dem Schild in der Illustration erhalten wir endlich eine Ahnung vom Vornamen des seinerzeit so Gefürchteten. J. Hotzenplotz steht dort. J.! Wie Jeremias, Johann oder Jodokus? Das ist ein genialer Kunstgriff. So macht ein einzelner kleiner Buchstabe aus einem Gesetzlosen eine bürgerliche Existenz: J. Hotzenplotz, Gastwirt und vormals Räuber, ist in der heilen Welt mit Kaffeemühle und Pflaumenkuchen angekommen.