Menden/Wickede. Der Sauerländer Jens Stahlschmidt wechselt an die Spitze des Fahrrad-Riesen und Umsatzmilliardärs ZEG. Wie er die Lage der Branche einschätzt.
Jahrelang raste die Branche mit einem Affenzahn auf zwei Rädern durch die Wirtschaftswelt. Wegen Corona. Mit Rückenwind. Urlaub? Ging nicht. Bus und Bahn? Nur mit Maske. Also kauften die Menschen Fahrräder. Viele Fahrräder. Die Folge: Wartezeiten von bis zu zwei Jahren. „Es wurde produziert auf Teufel komm raus“, sagt Jens Stahlschmidt. Der Mendener kennt sich aus wie kaum ein Zweiter mit E-Bikes, Trekkingrädern, Mountainbikes, Rennrädern, Citybikes, Pedelecs, Cargobikes und, ja, mit ganz normalen Fahrrädern.
Bis Ende dieses Jahres ist Stahlschmidt noch als Manager bei der Wilhelm Humpert GmbH in Wickede tätig; sie stellt unter anderem Lenksysteme und Sattelstützen her. Dann wechselt der 51-Jährige zur Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft (ZEG) nach Köln. Der Name klingt nach deutschem Understatement. Tatsächlich aber verbirgt sich hinter der ZEG ein Gigant mit mehr als 1000 deutschen und europäischen Fahrradhändlern und einem Gesamtumsatz von mehr als drei Milliarden Euro. Das heißt: Stahlschmidt radelt dann ganz weit vorne mit, quasi im gelben Trikot. Wir haben mit ihm über die Branche gesprochen.
Nach Corona-Boom purzeln die Preise jetzt wieder
Die muss sich nun ein bisschen abstrampeln. Denn nach Corona kamen der Krieg, die Inflation und die Ungewissheit. Die Kunden halten sich zurück. „Jetzt gibt es Überkapazitäten“, sagt Stahlschmidt. In den Lagern einzelner Produzenten stehen sich die Räder die Reifen platt – 30.000 bis 50.000 an der Zahl, schätzt der Experte aus dem Sauerland. „Da liegt Ware für ein bis zwei Jahre.“ Positiver Nebeneffekt: Die Preise purzeln. Rabatte sind wieder möglich. Und warten müssen die Käufer auch nicht mehr so lange.
Stahlschmidt will aber nicht klagen, auch wenn einige Teilehersteller schon Kurzarbeit angemeldet hätten. Man bewege sich nach wie vor auf einem hohen Niveau, sagt er. Jetzt müsse man sich eben den neuen Herausforderungen stellen.
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Und die haben viel mit Weltwirtschaft zu tun, genauer gesagt mit den Folgen der Globalisierung. Stahlschmidt hält es für dringend erforderlich, die Lieferketten nach Europa zurückzuholen und die Abhängigkeit von China abzubauen. Sein aktueller Arbeitgeber macht das schon: Die Produktion in Wickede wird ausgebaut, die in Asien zurückgefahren.
In Zukunft wird sich der Mendener bei der ZEG zudem noch intensiver mit den Trends auf zwei Rädern auseinandersetzen. E-Bikes, davon ist er überzeugt, werden weiter deutlich an Marktanteilen zulegen. Mit Elektro-Fahrrädern wurde hierzulande 2022 ein Umsatz von knapp 6,2 Milliarden Euro erzielt. In diesem Jahr werden in Deutschland wahrscheinlich zum ersten Mal mehr Räder mit Akku verkauft als jene, die ausschließlich mit Muskelkraft angetrieben werden. Sogar Porsche will in diesen lukrativen Markt einsteigen, selbst Räder produzieren, hochpreisige wahrscheinlich.
Kunden sind bereit, mehrere Tausend Euro in ein neues Rad zu investieren
Die Zahl der Kunden, die bereit sind, mehrere Tausend Euro in ein neues Rad zu investieren, steigt. So manches Rad rollt als Statussymbol durch die Gegend – für mehr als 10.000 Euro. Auch Mountainbikes werden zunehmend mit elektrisch unterstütztem Antrieb an den Mann oder an die Frau gebraucht. Und oft sogar an den Mann und an die Frau. „Immer mehr Räder werden pärchenweise verkauft“, sagt Stahlschmidt.
Einen wichtigen Trend sieht er in der Individualisierung der Produkte. Einige Hersteller bieten den Kunden – wie beim Autokauf – die Möglichkeit an, ihr Rad nach persönlichen Wünschen zu konfigurieren, etwa bei der Beleuchtung und bei der Dämpfung. „Das ist ein Riesenthema.“
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Das Rad der Zukunft, so der Fachmann, verliert an Gewicht, Kabel verschwinden, Akkus werden als solche kaum noch zu erkennen sein. Das Zubehör wird ausgefeilter: Bei der Messe Eurobike vor ein paar Wochen wurde etwa ein Scheinwerfer mit einer Leuchtweite von 72 Metern vorgestellt. Und weil die Preise wohl weiter steigen dürften, würde ein Verlust der Anschaffung umso schmerzlicher. Bedeutet: Das Tracking, also das Aufspüren, gewinnt an Bedeutung.
Jens Stahlschmidt muss das in Zukunft bei der ZEG noch mehr im Blick haben als jetzt. Schließlich soll das Fahrrad auch bei der Mobilitätswende eine größere Rolle spielen. Lastenräder können dank Batterie-Antrieb ein Auto ersetzen und sind daher vor allem in den Städten ein Thema. Im hügeligen Sauerland wird man dagegen in Zukunft noch mehr Mountainbikes sehen. Mit und ohne Akku.