Sundern/Hagen. Lieferengpässe bei Medikamenten sind nicht neu. Aber so schlimm wie derzeit war es wohl noch nie. Was Deutschland und die EU dagegen tun.
Die Lieferengpässe bei Arzneimitteln in Deutschland werden mindestens noch einige Monate anhalten.Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat zwar nach eigenen Angaben einen Gesetzentwurf bereits durch das Kabinett gebracht, der die Mangelwirtschaft in Deutschland in Zukunft verhindern soll, allerdings wird der nicht kurzfristig wirken. Lauterbach will die Herstellung von Medikamenten, die überwiegend in China und Indien passiert, zumindest zum Teil nach Deutschland beziehungsweise Europa zurückholen, kündigte er im Gespräch mit dieser Zeitung an.
Wie schnell dies gelingen kann, ist aber völlig offen. Zudem dürften dann Arzneien hierzulande teurer werden. „Die Generika werden dann dauerhaft etwas teurer, aber dafür haben wir keine Lieferengpässe mehr“, erklärte der Minister.
Generika sind die Medikamente, die nach Ablauf des Patentschutzes nicht mehr nur von den Unternehmen produziert werden dürfen, die sie entwickelt haben.
Probleme seit Jahren bekannt
Der Bundesgesundheitsminister schlägt vor, dass den gesetzlichen Krankenkassen für die sogenannten Rabattverträge mit Lieferanten vorgeschrieben wird, dass mindestens ein erheblicher Teil der Lieferung aus europäischer Produktion stammen muss. „Dafür garantieren wir die Abnahme“, erklärt Lauterbach. Weil in China und Indien aber deutlich günstiger produziert wird, würden dann nach dem Lauterbach-Modell die Arzneimittelpreise zwangsläufig steigen müssen.
Die Rabattverträge für Kinderarzneien habe er „sofort“ ausgesetzt, „um den unwürdigen Zustand zu beenden“, so Lauterbach. Noch ist diese Maßnahme offenbar nicht wirksam. Bereits seit Monaten sind einfache Medikamente wie Fiebersäfte in deutschen Apotheken kaum mehr zu bekommen. Auch Antibiotika für Kinder waren so knapp, dass junge Patienten stationär in Kliniken aufgenommen wurden, obwohl sie mit entsprechenden Medikamenten auch zuhause hätten behandelt werden können, wie Friedrich Ebinger, Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin des St. Vincenz-Krankenhauses in Paderborn berichtet: „Wir müssen derzeit sogar Medikamente einsetzen, die für Kinder gar nicht zugelassen sind. Es fehlt vor allem an Schmerz- und Fiebermitteln und ganz besonders an Antibiotika.“
Für Dominik Mörchen, Apotheker aus Meschede im Sauerland, nicht Neues: „Lieferschwierigkeiten kennen wir bereits seit Jahren.“ Darauf hingewiesen habe seine Branche seit langem, beispielsweise 2019 auf dem Apothekertag, als man den damaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) erklärt habe, dass Arzneimittelproduktion nach Deutschland zurückgeholt werden müsse.
„Deutschland galt einmal als Apotheke der Welt. Wir haben alle Medikamente selbst hergestellt“, erinnert Frank Ulrich Montgomery, ehemaliger Chef des Weltärztebundes (WMA). Lauterbachs Vorschläge seien redlich, aber viel zu kurz gesprungen. Es brauche eine grundsätzliche Lösung. Montgomery schlägt vor, dass es eine Bevorratung mit lebensnotwendigen Medikamenten geben solle, am besten europaweit, mindestens aber national. „Das bedeutet viel Bürokratie, aber wir brauchen das.“ Auch der ehemalige Ärzte-Chef drängt darauf, Produktion zurückzuholen und zudem gesicherte Lieferverträge unter den beteiligten Ländern zu garantieren. „Auch für ärmere Länder, anders als beim Coronawirkstoff“, mahnt Montgomery.
Hier könnte es zusätzlich schwierig werden, glaubt Peter Liese, CDU-Europaabgeordneter aus dem Sauerland und neben Umwelt- und Klimafragen auch für das Thema Gesundheit verantwortlicher Sprecher der Konservativen im Europaparlament (EVP-Fraktion). „Lauterbach macht Schritte in die richtige Richtung, allerdings gehen sie nicht weit genug und sind vor allem in Europa nicht abgestimmt“, kritisiert Liese. Das Problem: Nicht alle Länder sind in gleichem Maße interessiert. Die größten Engpässe gibt es in Deutschland, weil die Lieferanten hier aktuell die niedrigsten Preise erzielen können. Geschuldet ist dies einer Politik in der Vergangenheit, die vor allem versucht hat, die Kosten des Gesundheitssystems möglichst gering zu halten.
Erfahrungen damit haben die Hersteller zur Genüge. Richard Ammer, Arzt und geschäftsführender Inhaber des Iserlohner Arzneimittel-Unternehmens Medice, erinnert sich ebenfalls an einen Besuch von Jens Spahn. Dieser habe klar signalisiert, dass nur der Preis entscheiden sei. Der wird bislang über die Rabattverträge der Kassen mit jeweils einem Anbieter bestimmt. „Die Macht der Kassen sorgt dafür, dass wir keine neuen Anbieter sehen und Billiganbieter aus Indien und China auf dem Markt sind“, resümiert Ammer, der für ein Modell plädiert, bei dem mindestens drei Hersteller zum Zuge kommen und Made in Germany beziehungsweise Europa dabei sein muss.
Politik des Preisdumpings
Liese hält dabei eine europäische Lösung für zwingend: „Wer baut denn eine Fabrik, wenn nur Deutschland die Abnahme garantiert?“ Der amtierende Bundesgesundheitsminister hätte längst mit Frankreich, Italien, Spanien reden sollen – die Europaparlamentarier untereinander aber ebenso. Der Sauerländer will eine Abstimmung mit einigen großen Ländern anschieben, die Abnahmegarantien für teurere Arzneien Made in Europe geben, bevor mittelfristig eine gesetzliche Verpflichtung für alle EU-Länder folgen soll. Selbst wenn die Abstimmung schnell gelänge, würde es noch Monate dauern, bis Produktionskapazitäten aufgebaut würden. Kurzfristig sei es notwendig, im Ausland einzukaufen. Die Kunden sollten sich dann nicht irritieren lassen, wenn der Beipackzettel nicht auf Deutsch zu lesen ist. „Vertrauen Sie ihrem Apotheker“, sagt Liese – wenn es denn mal wieder Medikamente zu kaufen gibt.