Ratingen/Düsseldorf. Der Ratinger, der Einsatzkräfte mit brennbarer Flüssigkeit schwer verletzt hat, hat ihnen eine Falle gestellt. Sie hat wohl eine Vorgeschichte.
Je höher man kommt in dem vorgebauten Treppenhaus, desto stärker wird der Rauchgeruch, desto mehr Spuren hat die Tat von Ratingen noch hinterlassen. Gummihandschuhe und Stiefel von Feuerwehrleuten liegen hier herum, zu schwarzen Flatschen verbranntes Gummi klebt am Boden, große Blutflecken haben die Treppe getränkt. Ausgasungen, Trauer und Betroffenheit liegen in der Luft, „schlimm, sich das vorzustellen“, sagen Nachbarn und schütteln den Kopf: „Man weiß gar nicht, was man den Verletzten wünschen soll.“
Hier sind am Donnerstag fünf Einsatzkräfte durch eine Explosion lebensgefährlich verletzt worden, haben schwere Brandwunden, liegen im künstlichen Koma. Alle Schwerstverletzten hätten die zweite Nacht nach dem mutmaßlichen Mordanschlag überlebt, sagte ein Polizeisprecher am Samstag auf Nachfrage.
Jetzt ist die Spurensicherung in weißen Overalls und unter Atemschutz im 10. Stock des Hochhauses unterwegs, in der Nähe des Tatorts; Polizisten gehen von Tür zu Tür und befragen Nachbarn - jedenfalls die, die schon zurückkehren durften oder wollten. Manche wollten nicht, wohnen vorübergehend woanders als in diesem Hochhaus voller Müllers, Hoffmanns und Brauns. Ältere Leute ganz überwiegend, 70 Wohnungen auf zehn Stockwerken, das Gebäude renoviert: Nein, ein Brennpunkt war das nicht - bis Donnerstag.
„Da kommt man nicht mehr weg“
Bis Polizei und Feuerwehr vor einer Wohnungstür im 10. Stock stehen und nach einer vermeintlich hilflosen Person schauen wollen. Dann der Angriff. Was genau geschehen ist, dass ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaft am Freitag nach Kräften. Der Verdacht: War es eine Falle? Ein Mordversuch?
Klaus Pesch, der Bürgermeister von Ratingen, ist davon jedenfalls überzeugt: „Ein Mordanschlag.“ Die Einsatzkräfte seien Opfer einer „Durchzündung“ geworden, sagt er - und hätten „vor der Tür keine Chance gehabt, sich zu retten. Da kommt man nicht mehr weg.“ Nach seinen Informationen sei der Wohnungsflur mit Glasscherben übersät gewesen, müssten große Mengen Benzin in der Wohnung gelagert worden sein: „Da sind vermutlich Benzindämpfe explodiert, ausgelöst durch eine Art Molotowcocktail.“
In der Vorwoche war ein älterer Haftbefehl nicht vollstreckt worden
Ja, im großen und Ganzen ist es so gewesen, bestätigen Staatsanwaltschaft und Polizei am Freitagnachmittag. Da ist der Verdächtige gerade einem Richter vorgeführt worden, beantragt ist ein U-Haftbefehl wegen versuchten neunfachen Mordes. In Betracht kämen „weitere Vorwürfe wie Brandstiftung, aber dazu muss weiter ermittelt werden“, sagt Staatsanwältin Laura Neumann.
Jedenfalls wird im Verlauf der Pressekonferenz offenbar: Ja, es war eine Falle - eine Falle mit Vorgeschichte vielleicht. Denn am Mittwoch letzter Woche hatte ein Bezirksbeamter bei dem Verdächtigen einen Haftbefehl vollstrecken wollen wegen nicht gezahlter Bußgelder. Doch die Tür bleibt ihm verschlossen, er zieht wieder ab - in solchen Fällen ein „völlig normales Vorgehen“, so Landrat Thomas Hendele.
„Das macht man nicht so spontan“
Die zwei Polizisten und acht Feuerwehrleute, die am Donnerstag zu dem Hochhaus an der Berliner Straße fahren, kennen diese Vorgeschichte nicht. Sie fahren zu einer mutmaßlichen hilflosen Person, die die Wohnungsgesellschaft gemeldet hat aufgrund des überquellenden Postkastens. Feuerwehrleute sägen die Tür auf, stoßen dahinter auf eine Barrikade aus Mineralwasserkästen.
Während sie sie abräumen, „trat der Tatverdächtige hinzu, warf eine brennbare Flüssigkeit, es kam zur Explosion“, so Polizei-Einsatzleiter Dietmar Henning. Das sei, so die Kriminaldirektorin Heike Schultz, „seit mehreren Tagen durchdacht, das macht man nicht so spontan“. Polizei aus dem ganzen Land wird zusammengerufen, es beginnt eine Belagerung von dreieinhalb Stunden. Der Zugriff verzögert sich, weil der Mann nach und nach seine eigene Wohnung ansteckt - und weil die Dienstwaffe eines der verletzten Polizisten fehlt. Sie findet sich später in der Wohnung, der Täter hat sie nicht benutzt.
Den Umstand, dass die Einsatzkräfte zu einer „hilflosen Person“ geschickt, obwohl bekannt war, dass hinter der Tür ein Gewalttäter wohnt, möchte die SPD im NRW-Landtag in einer Sondersitzung des Innenausschusses thematisieren. Wurden die Einsatzkräfte darüber informiert, dass dort ein Gewalttäter wohnt, gegen den ein Haftbefehl vorlag, fragt die innenpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion deshalb.
Einsatzkräfte in Ratingen werden für eine Woche aus dem Dienst genommen
Sehr viel wissen die Ermittler an diesem Nachmittag noch nicht über den Verdächtigen. Corona-Leugner, „Separatistenszene“, so Schultz, Prepper dazu - also jemand, der sich über die Maßen bevorratet - aber ob das für das Motiv eine Rolle spielt, ist unklar. Drei Vorstrafen wegen Körperverletzungen, jeweils mit Geldstrafen bedacht. Er lebte zurückgezogen mit seiner Mutter, die - auch das weiß man zu diesem Zeitpunkt noch nicht - wahrscheinlich die weibliche Leiche ist, die in der Wohnung gefunden wurde. Die Frau ist vor einigen Wochen mit 90 oder 91 Jahren gestorben. „Es gibt keine Hinweise auf Fremdverschulden“, sagt Schultz.
Klaus Pesch, der Ratinger Bürgermeister, hat selbst 25 Jahre bei der Freiwilligen Feuerwehr der Stadt geholfen, kennt einige der Verletzten gut: „In der Nacht habe ich einige Male nicht mehr gegen die Tränen ankämpfen können.“ Er weiß auch, worauf es nun bei den anderen ankommt: Man müsse „versuchen, das mit unseren Einsatzkräften aufzuarbeiten. Ich rechne fest damit, dass viele einige Zeit nicht in der Lage sein werden, einen Einsatz zu fahren.“ Am Abend wird bekannt: Für eine Woche können sie sich aus dem Dienst zurückziehen, andere Kollegen aus dem Kreis Mettmann übernehmen ihre Aufgaben in Ratingen.