Hagen. Die Auflagen für Karnevalszüge werden immer umfangreicher, sogar Kamelle werden kontrolliert. Zugleiter wie Gil Kuntze kümmern sich um alles.

Als seine Tollität Andreas II. nahezu pünktlich um 11.11 Uhr am Karnevalssonntag der versammelten Partygemeinde in Hagen-Boele befiehlt: „Trinkt, was das Zeug hält!“, da steht Gil Kuntze an seinem Auto. Und zwar nüchtern. „Für mich“, sagt der 46-Jährige, „ist heute ein Arbeitstag.“

Während die Narren trinken, was das Zeug hält, ist Kuntze für die Sicherheit beim Karnevalszug durch den Hagener Stadtteil Boele verantwortlich. 15 Seiten umfasst allein das Sicherheitskonzept für den Zug. Sie müssen Absperrungen beantragen, eine Schankgenehmigung, es geht um TÜV, GEMA, Terrorsperren, Rettungs- und Fluchtwege. Die Auflagen auch für derartige Veranstaltung sind über die Jahre immer umfangreicher geworden. So umfangreich, dass ähnlich wie bei den Schützen auch mancher Karnevalist in der Region sich Sorge um die Zukunft des Brauchtums macht.

Bei allem Verständnis der Karnevalisten für notwendige Sicherheitsvorkehrungen, deren Sinn sich am Wochenende traurigerweise zeigte (siehe unten), sagt etwa Marc Rohrmann von der Attendorner Karnevalsgesellschaft „Die Kattfiller“ zu den Veranstaltungsauflagen: „Man kann die Hintergründe verstehen. Aber bald wird es die Tradition Karneval nicht mehr geben. Die Freude wird einem genommen.“

Da ist er: Oberloßrock Andreas II. (neben ihm seine Herzdame Anna und Bezirksbürgermeister Heinz-Dieter Kohaupt) hält den Schlüssel zum Boeler Amtshaus in der Hand. Im Norden von Hagen regieren die Narren.
Da ist er: Oberloßrock Andreas II. (neben ihm seine Herzdame Anna und Bezirksbürgermeister Heinz-Dieter Kohaupt) hält den Schlüssel zum Boeler Amtshaus in der Hand. Im Norden von Hagen regieren die Narren. © WP | Michael Kleinrensing

Neun Pkw stehen im Weg

11.30 Uhr in Hagen-Boele, Gil Kuntze, der Rohrmann inhaltlich zustimmt, bricht zu seiner ersten Inspektionstour des Tages auf. Drei Stunden vor dem Start des Karnevalszugs mit 17 Wagen und vor gut 33.000 Zuschauern im Hagener Norden fährt er die Strecke ab. Auf dem Dach seines Autos ist eine orangene Warnlampe angebracht, in der Frontscheibe hängt ein großes Schild: Zugleitung. Insgesamt neun Pkw zählt er, die noch aus dem Weg geräumt werden müssen, weil sie am Streckenrand im für diesen Tag verhängten Parkverbot stehen. „Da haben die Abschlepper gleich richtig was zu tun“, sagt Kuntze, der erstmals als Zugleiter für den Ablauf der Veranstaltung verantwortlich ist. Warum er sich das antut? „Weil ich bekloppt bin“, sagt der Familienvater.

Eigentlich, bekennt er später am Tag, habe er mit Karneval wenig am Hut, er sei über seine Frau zu den Loßröcken (Lausbuben) gekommen. Vereinsarbeit, ehrenamtliches Engagement, die Gemeinschaft, deshalb mache er mit. Obwohl er, wie er sagt, lieber im Hintergrund stehe, ist er nicht nur Geschäftsführer des gemeinnützigen Vereins, sondern auch Wagenbauer; außerdem kümmert er sich noch um den Vereinsnachwuchs – und seit diesem Jahr eben als Zugleiter um die Sicherheit des Rosensonntagszugs durch Boele.

Vor seiner Premiere als Hauptverantwortlicher hat er gehörig Respekt, am Morgen habe er gezittert. Er ist angespannt. Eine Verkehrs- und Sicherheitsbesprechung mit Ordnungsamt, Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst, THW, Verkehrsbetrieben und Müllabfuhr hat lange im Voraus der Veranstaltung stattgefunden. Jetzt liegt in seinem Auto der Plan mit der Wagenfolge des Zugs mit seinen 55 Wagen, Gruppen, Musikzügen auf dem Armaturenbrett, das Sicherheitskonzept im Kofferraum. Kuntze ist Verbindungsmann zu Ordnungsamt und Polizei – und kontrolliert sogar die Kamelle.

Vor Jahren flog in Boele Hundefutter als Kamelle

Selbst für die Süßigkeiten, „Wurfmaterial“ genannt, gibt es Vorgaben. Etwa: kein Alkohol, keine Medikamente, keine Dosen oder Flaschen. Auch das Haltbarkeitsdatum muss beachtet werden. Vor einigen Jahren flogen in Boele nicht nur Kamelle, sondern auch Hundefutter (kein Scherz). Als das Ordnungsamt anruft, verspricht Kuntze daher, dass er sich das Wurfmaterial angucke. „Noch mal Hundefutter“, sagt er, „darauf habe ich keine Lust.“

13.55 Uhr, noch 35 Minuten bis zum Start. Kuntze schreitet die Formation des Zugs ab. Mit seinen Helfern kontrolliert er stichprobenartig das Wurfmaterial. Außerdem muss er noch ein Extraproblem lösen. Ein Spielmannszug aus Volmarstein wurde nicht abgeholt. Nach drei Jahren Zwangspause ging wohl in der Absprache was schief... Besser läuft dafür die Zusammenarbeit mit Ordnungsamt und Polizei. Man habe einen „guten Draht“ zu den Behörden, auch die Zusammenarbeit mit dem TÜV laufe gut. Jeden ihrer 17 Wagen mussten sie durch die Kontrolle bringen. Gebühren pro Wagen: 116 Euro. Aber: Kuntze erwartet, dass bald neue Auflagen kommen, eine Auflaufbremse für Anhänger etwa (damit die Wagen bei einer Bremsung des Zugfahrzeugs nicht auffahren). Wenn das so komme, „können wir bis auf einen Wagen alle weg tun“, sagt Kuntze.

Während des Karnevalszugs muss jeder ihrer Wagen von Ordnern gesichert werden, damit etwa Kinder nicht unter die Räder kommen, sollten sie auf der Jagd nach Kamelle auf die Straße springen. 17 Wagen, acht Begleiter pro Gespann, macht 136 Wagenschützer. Die Loßröcke haben 105 Mitglieder. Sie greifen daher auf Familienangehörige, Freunde und Bekannte zurück. Andere Vereine aber engagieren Sicherheitsdienste. Die kosten wohl ein Vermögen. Kuntze rechnet vor, dass pro Stunde und Mitarbeiter 26 Euro berechnet werden würden.

Andreas Kohaupt, 2. Vorsitzender der Loßröcke, macht sich Sorgen um die Zukunft des Karnevals.
Andreas Kohaupt, 2. Vorsitzender der Loßröcke, macht sich Sorgen um die Zukunft des Karnevals. © WP | Michael Kleinrensing

Busse als mobile Terrorsperren

Weitere Kosten sind etwa eine Zugversicherung, außerdem ist jeder Trecker zusätzlich versichert. Seit dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz 2016 müssen sie mit Lkw oder Bussen mobile Terrorsperren errichten. Demnächst solle man Drohnen steigen lassen, um zu überprüfen, wie viele Personen auf einem Quadratmeter stehen, erzählt Marc Rohrmann. Der Präsident der Attendorner Kattfiller weist wie seine Kollegen aus Boele darauf hin, dass bei den Vereinen meist Ehrenamtler diese Dinge umsetzen müssen. Irgendwann aber würden die sagen: „Es reicht.“ Andreas Kohaupt bestätigt: „Die Belastung nimmt zu.“ Der 2. Vorsitzende der Loßröcke Boele merkt zudem an, dass neben den Sicherheitskonzepten auch der demografische Wandel eine Rolle spiele. „Immer weniger Leute müssen immer mehr Aufgaben übernehmen“, sagt der 31-Jährige.

14.20 Uhr, gleich geht’s los. Bei Kuntze, von Beruf Fachinformatiker, löst sich die Anspannung der vergangenen Stunden und Tage. Sein Job ist nun fast erledigt. Alle Wagen und Gruppen sind an Ort und Stelle, die Aufstellung passt. Sogar der Spielmannszug aus Volmarstein ist noch eingetroffen.

14.30 Uhr, der Karnevalszug startet. Ab jetzt ist Kuntze Zuschauer. Polizei und Ordnungsamt sind nun verantwortlich. „Ich“, sagt Gil Kuntze, „habe meine Schuldigkeit getan.“

Zumindest für dieses Jahr.

+++ Hintergrund: Tödlicher Sturz nach Karnevalsfeier+++

Eine Frau ist nach einer Karnevalsfeier im Landkreis Lippe aus einem fahrenden Trecker gestürzt, von dem Anhänger des Traktors überrollt worden und gestorben. Die 56-Jährige sei derart schwer verletzt worden, dass sie noch an der Unfallstelle bei Kalletal-Erder starb, teilte die Polizei am Sonntagmorgen mit.

Es werde gegenwärtig ermittelt, wie es zu dem Unglück am Samstagnachmittag gekommen sei. Bei dem Anhänger habe es sich nicht um einen Karnevalswagen gehandelt.