Dortmund. Das lange eingesperrte Mädchen aus Attendorn ist jetzt in einer Pflegefamilie. Ein Pflegevater erzählt, wie Kinder mit einer Trennung umgehen.

Vielleicht ist das Mädchen aus Attendorn, das fast sieben Jahre lang von ihrer Mutter und den Großeltern in deren Haus eingesperrt worden sein soll, in diesen Tagen zum ersten Mal in seinem Leben durch raschelndes Laub gelaufen. Vielleicht hat die Achtjährige zum ersten Mal gespürt, wie es ist, über eine Wiese zu gehen, über die sich der Morgentau gelegt hat.

„Sie wird sich auf viele neue Situationen einlassen müssen“, sagt Joscha Stillner, „sie wird draußen eine für sie bislang unbekannte Welt beschnuppern.“

Trennung von den Eltern ist ein großer Einschnitt

Das Kind aus dem Sauerland ist mittlerweile in einer Pflegefamilie untergebracht. Joscha Stillner ist selbst Pflegevater: „Das Wichtigste für das Mädchen ist jetzt, dass es Geborgenheit, Zuneigung und Verlässlichkeit findet. Es muss sich in seiner neuen Umgebung eingewöhnen. Man darf sich nichts vormachen: Die Trennung von der leiblichen Familie ist für jedes Kind ein großer Einschnitt.“

Der hintere Teil von Joscha Stillners Garten in einem Dortmunder Stadtteil erinnert an einen Kinderspielplatz. Neben der knallig blauen Rutsche finden sich eine Schaukel und ein Kletternetz. Wenn man so will, ist das Grundstück in einer Stichstraße zum sozialen Auffangnetz für das neunjährige Pflegekind der Stillners geworden, das längst zu einem vollständigen Familienmitglied geworden ist.

Angehörige mit einbezogen

„Meine Frau und ich wollten eine Familie gründen, konnten aber keine leiblichen Kinder bekommen“, erzählt der 50 Jahre alte Geschäftsführer einer GmbH. Das Ehepaar entschied sich für ein Pflegekind, „weil Jungen und Mädchen, die von ihren leiblichen Eltern getrennt werden, in der Regel in einer Pflegefamilie größere Chancen auf ein annähernd normales Leben haben als in einem Kinderheim“.

Vor der Entscheidung für den neuen Mitbewohner haben die Stillners noch Angehörige gefragt, was sie davon halten. „Pflegekinder werden nicht ohne Grund aus ihren ursprünglichen Familien geholt“, sagt Joscha Stillner, „sie haben immer ein großes Päckchen mit sich herumzutragen. Jeder Fall ist ein persönliches Drama. Das muss man wissen, wenn man sich für ein Pflegekind entscheidet.“

Entwicklungsverzögerungen sind die Regel

Das in der Vergangenheit Erlebte hänge Betroffenen lange nach, begleite sie womöglich ein Leben lang. Entwicklungsverzögerungen seien die Regel, plötzlich auftretende Verhaltensauffälligkeiten nicht selten, so Stillner: „Das können der Drang zum Horten von Essen sein, weil die Versorgungslage zuvor unzureichend war, oder die Neigung zu Wutausbrüchen oder Angststörungen, weil das Kind Gewalt oder Missbrauch erlebt hat, oder fehlende Distanz zu anderen Menschen, weil es Verlustsituationen ausgesetzt war.“ Dennoch: „Unser Pflegekind ist eine riesige Bereicherung für unsere Familie.“

Der Westfale will sein Pflegekind schützen und nennt keine Details aus dessen Vorgeschichte und dessen Alltag. Es ist inkognito bei ihm. Seine leiblichen Eltern wissen nicht, an welchem Ort es untergebracht ist, um Besuche zu verhindern, die dem Kind womöglich nicht guttun. Ab und an dürfen sie ihr Kind treffen – meist in den Räumen des Jugendamtes.

Mehr als 87.000 junge Menschen in Deutschland leben in Pflegefamilien

Joscha Stillner engagiert sich als Vorstand bei PAN „Pflege- und Adoptivfamilien NRW“, dem Landesverband, sowie im Dortmunder Verein PADO. Dass das Olper Kreisjugendamt das Mädchen aus Attendorn aus seiner Familie genommen, den Eltern ein Kontaktverbot auferlegt hat und alles daransetzt, das Kind aus der Öffentlichkeit herauszuhalten, hält Stillner für richtig: „Wenn man ein Kind in ein Haus einsperrt, kann es sich nicht kindgerecht entwickeln und wird unter Bewegungsmangel leiden.“ Und: „Ein gesundes, normales Leben erfordert mehr als die eigenen vier Wände. Wir sind soziale Wesen.“

Die Stillners sind eine von vielen Familien für verwundete Seelen. Mehr als 87.000 junge Menschen in Deutschland leben in Pflegefamilien. Es sind vernachlässigte, verunsicherte oder traumatisierte Kinder, die Jugendämter aus Familien nehmen, die unter anderem mit Drogen, Alkohol oder Erkrankungen, insbesondere psychischen, zu kämpfen haben.

Sicherungssystem nicht gegriffen

Dass ein Kind wie im Attendorner Fall von den Behörden unbemerkt fast sieben Jahre eingesperrt ist und kaum eine Treppe hinauflaufen kann, ist zwar auch für Joscha Stillner „sehr ungewöhnlich“, aber in seinem Hintergrund „leider ein fast typisches Beispiel dafür, wenn Sicherungssysteme nicht greifen“.

Das Attendorner Mädchen ist am 23. September aus seiner Familie geholt worden. Anschließend wurde es in einer der Bereitschaftspflegefamilien untergebracht, die darauf eingestellt sind, wenn unmittelbar gehandelt werden muss.

Die Kinder sind nur einen begrenzten Zeitraum in solchen Familien, sollen zunächst einfach nur aufgefangen werden. Möglich, dass die Achtjährige bereits zu einer Dauer-Pflegefamilie gebracht wurde. Joscha Stillner: „Für die Kinder gilt: Je weniger Wechsel, umso besser. Jeder Bindungsabbruch behindert die Bindungs- und Beziehungsfähigkeit.“

Eine finanzielle Entlastung?

Das Land braucht Menschen wie Joscha Stillner, die Kinder aufnehmen, die Hilfe benötigen. Das Wissen, dass das Jugendamt das Pflegekind eines Tages wieder an die leiblichen Eltern zurückgeben könnte, ist dabei immer präsent.

Die Zahl solcher Rückführungen zu den Herkunftsfamilien sei allerdings eher gering, sagt Stillner: Aus behördlicher Sicht mag das Verlassen der Pflegefamilie vordergründig finanziell eine Entlastung sein. Die langfristigen Kosten für die Gesellschaft könnten aber viel höher sein, wenn das Pflegekind wegen seiner persönlichen Historie später nicht gut in die Gesellschaft integriert sei. „Am Ende geht es doch darum, dass die Kinder ein möglichst normales Leben führen können.“

Das wünscht der Pflegevater aus Dortmund auch dem achtjährigen Mädchen aus Attendorn. „Vielleicht ist das Kind noch so gerade rechtzeitig aus ihrem Elternhaus genommen worden. Ich denke, sie hat noch eine reelle Chance, sich gut zu entwickeln.“

Weitere Informationen im Internet: www.pan-ev.de; www.pado-verein.de