Hagen. Das Erzbistum Paderborn hat jetzt einen Seelsorger für Missbrauchsbetroffene. Der Pastor wurde als Kind selbst von einem Priester missbraucht.

Der Dortmunder Pastor Liudger­ Gottschlich (61) ist neuer Seelsorger für Betroffene von Missbrauch im Erzbistum Paderborn. Der gebürtige Mescheder wurde als Elfjähriger selbst von einem Priester sexuell missbraucht.


Wie sind Sie zu der Aufgabe des ersten Seelsorgers für Betroffene von Missbrauch im Erzbistum gekommen?

Liudger Gottschlich: Die Bitte nach einem geistlichen Ansprechpartner kam aus dem Kreis der Betroffenen. Der Paderborner Erzbischof und sein Generalvikar haben diese Idee gerne aufgenommen und mich gefragt. Beiden liegt sehr daran, bei Missbrauch durch einen Kleriker oder Beschäftigte im kirchlichen Dienst neben den finanziellen Leistungen auch andere Hilfsangebote für Betroffene zu ermöglichen.

Was befähigt Sie für diese Aufgabe?

Missbrauch hat eine zerstörerische Wirkung, die sich Nicht-Betroffene schwer vorstellen können. Meine eigene Missbrauchsgeschichte, zusammen mit meiner mehr als 30-jährigen Erfahrung als geistlicher Begleiter – davon bereits zehn Jahre mit Missbrauchsbetroffenen zwischen den Jahren 2000 und 2010 –, ermöglichen mir einen Zugang zu dieser Aufgabe. Aber die Zusage hat mich Überwindung gekostet. Ich habe mich schon gefragt, ob ich das als selbst Betroffener will.

Möchten Sie etwas zu Ihrer eigenen Missbrauchsgeschichte sagen?

Ja, gerne. Ich bin 1972, im Alter von elf Jahren, als Schüler der sechsten Klasse der Knaben-Realschule in Meschede von meinem damaligen Religionslehrer sexuell missbraucht worden. Es geht um einen Fall. Der Lehrer war Priester in den Nachbarorten Wehrstapel und Heinrichsthal. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich nicht der einzige Betroffene in meiner Klasse war. In den vergangenen Jahren sind verschiedene Missbrauchstaten des inzwischen verstorbenen Geistlichen bekannt geworden. Während seiner Dienstzeit hat die damalige Erzbistumsleitung nicht eingegriffen. Es wurde wie so oft gezielt nicht gehandelt.

Sie waren zum Tatzeitpunkt elf Jahre alt. Wann war Ihnen klar, dass sie als Schüler von dem Priester missbraucht wurden?

Das Erlebte war über viele Jahre komplett verschüttet. Als ich als Erwachsener eines Tages per Online-Banking eine Überweisung tätigte, hatte ich aus dem Nichts die Bilder von damals vor Augen. Der Täter war zu dem Zeitpunkt bereits tot. Danach hat mir ein Priester, gleichzeitig ausgebildeter Tiefenpsychologe, als geistlicher Begleiter bei der Aufarbeitung geholfen.

Wie weit sind Sie mit der Aufarbeitung des Geschehens?

Es wird nie vollständig aufgearbeitet sein. Man lernt nur, damit umzugehen. Es kommt immer noch vor, dass an den Missbrauch erinnert wird. Bei vielen Betroffenen sind Folgen Panikattacken, existenzielle Ängste oder das Gefühl von absoluter Lähmung. Als Missbrauchsbetroffener führt man ein Leben mit vielen Einschränkungen. Man bekommt lebenslang, die Täter nicht.

Welche Ziele verfolgen Sie bei Ihrer neuen Aufgabe?

Ich selbst habe mich Anfang des Jahres mit meinem Fall an die Missbrauchsbeauftragten und das Interventionsteam des Erzbistums gewandt. Ich will Betroffene ermutigen, Ähnliches zu tun und sich damit dem Thema zu stellen. Sie sollen die Angst vor der Vorstellung überwinden, dass ihnen eh keiner glaubt, weil sie die Tat nicht beweisen können. Sie sollen spüren: „Da ist jemand, der mir glaubt.“ Ich will Betroffene geistlich begleiten und ihnen Raum geben, zu sprechen. Höchst vertraulich, das sichere ich zu. Viele Betroffene stellen ihre Gottverbundenheit in Frage, können nicht verstehen, dass Gott so etwas zulässt und die Kirche solche Taten geduldet hat.

Sie sprechen immer von Betroffenen von Missbrauch, nicht von Missbrauchsopfern. Warum?

Es geht darum, die Menschen aus der Opferrolle zu holen, damit sie die Abhängigkeit zum Täter überwinden und die Souveränität über ihr eigenes Leben zurückerlangen.

Wegen der schleppenden Aufarbeitung der Missbrauchsfälle haben zahlreiche Katholiken der Kirche den Rücken gekehrt. Haben Sie auch mit dem Gedanken gespielt?

Nein, nie. Ich war immer im geistlichen Bereich verwurzelt. Wenn man so will, habe ich immer in gewisser Opposition zur Institution Kirche gestanden. Kirche ist mehr als die äußere Institution.

Sie engagieren sich als Homosexueller in der Initiative „Out in Church“, in der sich queere Menschen zusammengeschlossen haben, die beruflich oder ehrenamtlich in der katholischen Kirche tätig sind. Was sind Ihre Beweggründe?

Ich habe in meinen mehr als 30 Jahren als Seelsorger sehr viel Leid von Menschen mitbekommen, die in ihrem innersten Personen-Kern von der Kirche abgelehnt werden. Diese Botschaft verursacht Selbsthass oder vermindertes Selbstwertgefühl. Sie zwingt queere Menschen zu permanenter Camouflage, Vorsicht und Verstellung. Dieses Leiden muss ein Ende haben.

Betroffene können sich an die Missbrauchsbeauftragten des Erzbistums Paderborn wenden:Gabriela Joepen:Telefon: 0160/7024165E-Mail: missbrauchsbeauftragte@joepenkoeneke.deAdresse: Rathausplatz 12 in 33098 Paderborn