Schalksmühle. Schwanger erhält Christin Schilling die Diagnose Brustkrebs: Wie sie um ihr Leben kämpfte – und um eine Erinnerung für ihr Töchterchen Lia (2).

Neulich war wieder einer dieser Momente, in denen sie die Tränen nicht zurückhalten kann. Die Momente werden weniger, aber es gibt sie noch. Ein verregneter Tag, Christin Schilling (32) und ihre Tochter Lia (2) schauen einen Zeichentrickfilm: „In einem Land vor unserer Zeit“. Die Geschichte von Littlefoot, dem kleinen Dinosaurier, dessen Mutter nach einem Kampf in seinem Beisein verstirbt. „Da konnte ich nicht mehr“, sagt Christin Schilling. Weil sie weiß, dass es ihr und Lia einmal genauso gehen könnte.

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Im Herbst 2019 ertastet Christin Schilling bei sich so etwas wie einen Knoten in der Brust. Sie ist ausgebildete Krankenschwester, aber sie misst der Sache erstmal keine große Bedeutung bei. Vielleicht eine Veränderung durch die Schwangerschaft, denkt sie. 30. Woche schon. Die Krönung ihres Glücks. Ihren Mann Yanik kennt sie seit der fünften Klasse, seit dem 16. Lebensjahr sind sie ein Paar. Nun ist Lia endlich unterwegs. Es ist: perfekt.

Brustkrebs, hohe Wachstumsrate: Das volle Programm wird nötig

Sie weiß noch, wie sich die Ärztin zwei Wochen später viel zu nah zu ihr beugte, um ihr die Nachricht zu überbringen: Brustkrebs, hohe Wachstumsrate, Operation und Chemotherapie nötig, das volle Programm, möglichst schnell. Aber wie mit einem kleinen Leben im Bauch? Um ein genaueres Bild vom Krebs zu haben, kommt für Schwangere nur Ultraschall infrage. „Können Sie mir noch mal mein Kind zeigen“, fragt sie die Ärztin, bevor es überhaupt losgeht.

„Dieser Mann hat einen Orden verdient“: Christin Schilling mit ihrem Mann Yanik.  
„Dieser Mann hat einen Orden verdient“: Christin Schilling mit ihrem Mann Yanik.   © WP | Privat

Im Juni 2022 hängt ein Muttertagsgeschenk der Tochter am Türrahmen der Wohnung in Schalksmühle: „Mama lieb“ steht darauf. Christin Schilling fühlt sich erstmals seit drei Jahren gut und gesund. „Manchmal“, sagt sie, „vergesse ich es sogar.“ Dass sie Palliativpatientin ist, dass der Krebs jederzeit zurückkommen kann, dass ihre Art der Erkrankung dies sogar recht wahrscheinlich macht.

Treffen im Himmel – aber später

Sie denkt an ihre Freundin aus der Reha: Im vergangenen Oktober galt diese als krebsfrei. Im Januar starb sie. Mit ihr hatte sie über den Himmel gesprochen und was sie dann einmal dort anstellen werden. Auf dem Flug zurück aus dem Urlaub in Ägypten vor ein paar Tagen durchfliegt Christin Schilling den Himmel - und weint. „Ich will da nicht hin. Ich will noch lange hier bleiben, bei meiner Familie“, sagt sie.

Lia muss wegen ihrer Mama früher zur Welt geholt werden: fünf Wochen vor dem errechneten Termin. Mittwoch Geburt, Sonntag Entlassung, Montag wieder ins Krankenhaus: Der Kampf gegen den Krebs beginnt für Christin Schilling. Vier Stunden Computertomographie an ihrem 30. Geburtstag, Operation, ein Port-Zugang wird ihr unter die Haut gelegt. Kurze Zeit später startet die erste Chemotherapie. Bis heute 45 Sitzungen. Die Haare fallen ihr aus. Der Krebs kommt zurück. Nächste Operation. Nächste Chemo. Wieder kommt der Krebs zurück, streut in die Lunge. Im August 2020 senken die ersten Mediziner betreten den Kopf: Sie sei austherapiert. Sie sucht sich andere Ärzte.

Was, wenn Lia keine richtige Erinnerung an die Mama hat?

Was, wenn dieses Leben plötzlich vorbei ist? Wenn Lia keine richtige Erinnerung an die Mama hat? „Ich habe angefangen, Briefe zu schreiben, in denen ich ihr schreibe, dass ich ihr nur das Beste wünsche, dass ich sie lieb habe.“ Vier Stück sind es geworden, ehe sie das Gefühl bekam, dass das nicht das richtige ist. Ein Rezeptbuch mit Mamas Lieblingsrezepten begann sie, einen Kalender ebenfalls. Zufrieden war sie mit all dem nicht. „Aber ich wollte, dass sie etwas in den Händen hält, wenn ich gehen muss.“

Auf ihrem Instagram-Account „our.best-journey“ führt Christin Schilling so etwas wie ein Tagebuch. Das hilft ihr, sagt sie, und mache auch anderen Mut, niemals aufzugeben.
Auf ihrem Instagram-Account „our.best-journey“ führt Christin Schilling so etwas wie ein Tagebuch. Das hilft ihr, sagt sie, und mache auch anderen Mut, niemals aufzugeben. © FUNKE Foto Services | Vincent Kleemann

Das, was sie nun hat, empfindet Christin Schilling als das Wertvollste, das sie besitzt: ein professionelles Hörbuch über ihr Leben (siehe Hintergrund unten). Es liegt sicher in einem Safe. Damit Lia ihre Mama hören kann, wenn Mama nicht mehr sein sollte. Damit sie weiß, wer die Mama war, was sie ausmachte, welche Musik sie hörte, als sie jung war. „Tokio Hotel – aber google das lieber nicht, Lia“, sagt sie in dem Hörbuch. Sie wollte es witzig haben. Der Anlass ist ja verheerend genug.

Die Mama erzählt darin von früher, von ihrer Oma, von Schulfreunden und besonders viel von Lias Papa. Wie sie seit sie 16 sind die höchsten Höhen und tiefsten Tiefen durchschritten. „Dieser Mann hat einen Orden verdient. Was er meinetwegen hat mitmachen müssen, ist unvorstellbar. Ohne ihn und ohne Lia wäre ich nicht mehr hier“, sagt sie. Sechs Stunden sind es geworden über ein Leben, das sich dem Tode bedrohlich annäherte – und sich nicht ganz von ihm entfernen kann. Mit persönlichen Worten an Lia, Yanik, ihre beste Freundin, die Eltern und Schwiegereltern.

Wie durch ein Wunder bilden sich die Metastasen zurück

Die Ärzte im Klinikum in Essen schlagen eine Immuntherapie vor. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Metastasen sich dadurch zurückbilden , liegt bei fünf Prozent. Christin Schilling gehört zu diesen fünf Prozent. Die Behandlung schlägt dauerhaft an, der Krebs zieht sich wie durch ein Wunder zurück. Ein Martyrium ist all das trotzdem. „Die zweite Chemo hat mich alles gekostet, die hätte mich fast umgebracht“, sagt sie. Die Immuntherapie, die so harmlos klingt, hat ebenfalls heftige Nebenwirkungen: „Ich konnte kaum laufen, schlecht atmen, kein Essen bei mir behalten.“

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Ihr ist schwindelig und kraftlos zumute, die Nerven in den Händen schmerzen so sehr, dass sie schreiend im Bett liegt und sich nichts sehnlicher als eine beidseitige Amputation wünscht. Zwischenzeitlich wog sie wegen der Wassereinlagerungen 130 Kilogramm – doppelt so viel wie vor der Geburt. Vier Monate verbringt sie 2021 im Krankenhaus. Psychisch ist sie längst am Ende. Dabei will sie doch nur eine normale Mama sein und sich um ihr Kind kümmern, wenn es nachts aufwacht. Sie kann es nicht. Die Beziehung zu Lia leidet darunter. Erst jetzt, wo sie mehr Mama sein kann, allmählich, normalisiert sich alles.

Kontrolltermine bestimmen das Leben

Alle zwei Wochen muss sie zur Immuntherapie, alle drei Monate zur CT-Kontrolle. Nächster Termin: 4. Juli. Die Tage, die es bis dahin noch sind, hat sie genau im Kopf. Sechsundzwanzig. Wer fünf Jahre krebsfrei bleibe, der habe gute Chancen, sagt sie.

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Neulich, erzählt Christin Schilling, habe sie in einem Geschäft einen riesigen Luftballon in Form einer 3 gesehen. Das wäre doch etwas für den dritten Geburtstag der Kleinen, die jetzt bald im Kindergarten nicht mehr in die Zwergengruppe geht, sondern zu den Größeren, zu den Schlümpfen. „In den letzten zwei, drei Jahren habe ich nur von Woche zu Woche geplant. Ich hätte den Luftballon gekauft und ihn meinem Mann gegeben. Dann hätte er ihn schon für den Geburtstag, selbst wenn ich nicht mehr da bin.“ Sie habe den Ballon liegen lassen und einen Vermerk im Kopf gemacht: Denk im Oktober dran, ihn zu kaufen. „Ich traue mich wieder, weiter in die Zukunft zu schauen.“

Als all das anfing, hatte sie genau ein Ziel: Einmal nur wollte sie ihre Tochter „Ich hab dich lieb“ sagen hören. „Das habe ich geschafft. Das erleichtert mein Herz“, sagt Christin Schilling. Aber sie hat jetzt neue Ziele. Die Einschulung. Und den Abi-Ball.

<<< HINTERGRUND >>>

Das Familienhörbuch ist eine gemeinnützige GmbH, die es seit 2019 gibt. Das Angebot richtet sich an unheilbar und lebensverkürzend kranke Mütter und Väter, die ihre Kinder auf dem Weg in ihr Erwachsenenleben nicht mehr begleiten können.

Für die Teilnehmer ist das Hörbuch – professionell aufgenommen und bearbeitet – kostenfrei, da sich das Projekt durch Spenden finanziert. Wer teilnehmen möchte, muss sich bewerben. Mehr unter:www.familienhoerbuch.de