Herscheid. Die Herscheider Firma Gustav Alberts verliert wegen der A45-Sperrung Mitarbeiter und will jetzt Brückenprämien zahlen, um die Leute zu halten.

Die ersten Beschäftigten beim Herscheider Unternehmen Gustav Alberts haben die Nase gestrichen voll. Sie kapitulieren angesichts des tagtäglichen Verkehrsinfarktes rund um Lüdenscheid, der durch die seit Dezember gesperrte Autobahn-Talbrücke Rahmede ausgelöst wird. „Wir haben bereits einige Kündigungen bekommen“, sagt Dietrich Alberts, Geschäftsführer des mittelständischen Industriebetriebs im Gewerbegebiet Grünenthal, das vor genau 170 Jahren gegründet worden ist.

Nach feiern ist seit Monaten niemandem mehr zu Mute. Damit nicht noch mehr Mitarbeiter das Unternehmen verlassen, nimmt Alberts jetzt Geld in die Hand: „Wir haben vor, den Mitarbeitern einen kleinen Ausgleich für den Mehraufwand zu zahlen.“ Mehr Zeit, höhere Fahrtkosten und eine tagtägliche Zumutung. Vom Sommer zunächst bis Ende des Jahres soll es diese Art „Brückenprämie“ bei Alberts geben.

Bauzeit Hagen- Lüdenscheid in 60ern mit sechs Brücken: 4 Jahre

Welches Ausmaß die Vollsperrung der wichtigen Nord-Süd-Achse für Unternehmen wie Alberts und die ganze Region letztlich haben wird, hängt davon ab, wann ein Brückenneubau steht – und ob weitere Sperrungen erfolgen. Die jüngste Ansage vom Lüdenscheider Bürgermeister Sebastian Wagemeyer, der vom Bundesverkehrsministerium zum „Brückenbeauftragten“ ernannt wurde, lautete gegenüber einem Unternehmerkreis „fünf Jahre minus x“. Die notwendige Sprengung des Bauwerks soll allerdings erst im beginnenden Winter im Dezember dieses Jahres stattfinden können.

Der Herscheider Unternehmer Dietrich Alberts war als Jugendlicher dabei, als vor über 50 Jahren auf der Raststätte Sauerland im Beisein des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt und des Bundesverkehrsministers Georg Leber (beide SPD) die gerne „Königin der Autobahnen“ betitelte heutige A45 offiziell eröffnet wurde. „Ein Schulausflug.“ Am 25. Oktober 1971, kurz nachdem das letzte Teilstück zwischen Lüdenscheid und Freudenberg fertiggestellt worden war, fand der Festakt statt. Bereits seit 1968 stand der gesamte Autobahnabschnitt zwischen Hagen und Lüdenscheid mit sechs Brücken inklusive der nun maroden Talbrücke Rahmede – nach heute sagenhaft anmutenden vier Jahren Bauzeit. „Eigentlich müssten wir doch heute technisch weiter sein als damals“, wundert sich Alberts über den aktuellen Zeithorizont für den notwendigen Brückenneubau.

Der 60-jährige Valerie Tews ist Schweißer und wohnt in Lüdenscheid in Blickweite zur maroden Talbrücke Rahmede. Täglich begibt er sich in den Stau, um zur Firma nach Herscheid zu kommen. Seine Fahrzeit hat sich verdoppelt.
Der 60-jährige Valerie Tews ist Schweißer und wohnt in Lüdenscheid in Blickweite zur maroden Talbrücke Rahmede. Täglich begibt er sich in den Stau, um zur Firma nach Herscheid zu kommen. Seine Fahrzeit hat sich verdoppelt. © FUNKE Foto Services | RALF ROTTMANN FUNKE FOTO SERVICIS

Tatsächlich zählt jeder Tag, um den das Dilemma verkürzt werden kann. „Die Sperrung wird Auswirkungen haben, die das Sauerland um Jahre zurückwerfen wird. In ein, spätestens zwei Jahren werden wir die Region nicht wiedererkennen. Die Menschen gehen weg“, prophezeite die Iserlohner Spediteurin Gudrun Winner-Athens zu Wochenbeginn bei einer Unternehmerversammlung in Meschede, an der auch der CDU-Parteichef Friedrich Merz teilnahm.

Die Menschen gehen weg, wenn sie können. Valeri Tews arbeitet seit beinahe 25 Jahren bei Alberts in Herscheid als Schweißer. Der 60-Jährige wohnt in Lüdenscheid: „Ich sehe die kaputte Brücke von meinem Balkon aus.“ Und den täglichen Stau drumherum. Bis vor einem halben Jahr brauchte Tews jeweils eine halbe Stunde zur Arbeit nach Herscheid und am Nachmittag zurück. „Wenn ich jetzt eine Stunde brauche, habe ich Glück gehabt.“ Tews will Alberts treu bleiben. Auch ein Glück, denn der Wettbewerb um Fachkräfte ist auch ohne Hemmnisse bereits heute immens. „Die Arbeitslosigkeit ist hier gering. Wir sind auf Einpendler aus dem Ruhrgebiet angewiesen“, erklärt Alberts.

Bewerber aus Ruhrgebiet winken ab, wenn sie Herscheid hören

Einige Bewerber würden aber direkt abwinken, wenn sie Herscheid hören und durch Lüdenscheid zum Job fahren müssten, sagt der Mittelständler. Die Stimmung sei schlecht. Jetzt fehle nur noch, dass die zweite Brücke (Brunsbecke) auch noch gesperrt werde. Die Aussagen aus Berlin zum Brückenneubau seien nicht konkret genug. Auch die Landtagsabgeordneten aus der Region sollten sich einsetzen.

„Wenn es zur Beschleunigung einer Grundgesetzänderung bedarf, dann muss man das machen“, fordert Alberts. Seine Wunschvorstellung: Die Talbrücke Rahmede als Anstoß, Planungen in Deutschland zu vereinfachen und zu beschleunigen. Schließlich hat allein die Königin der Autobahnen noch jede Menge mehr in die Tage gekommene Bauwerke.

>> INFO: Seit Dezember 2021 gesperrt

  • Am 2. Dezember 2021 ließ die Autobahn GmbH Westfalen die Talbrücke Rahmende zwischen den Autobahnabschnitten Lüdenscheid-Nord und Lüdenscheid-Mitte für sämtlichen Verkehr sperren, nachdem Verformungen und letztlich auch Risse in der Unterkonstruktion der Brücke festgestellt worden waren.
  • Die Hoffnung, dass wenigstens Pkw weiter über die Brücke fahren könnten, zerschlug sich nach eingehenderen Prüfungen.
  • Die erste Prognose der Autobahn GmbH für den notwendigen Neubau der Brücke lautete acht bis zehn Jahre. Inzwischen scheint man mit fünf Jahren „minus x“ zu rechnen. In den 60er Jahren wurden für den Abschnitt von Hagen bis Lüdenscheid mit insgesamt sechs Brücken lediglich vier Jahre benötigt.