Hagen. Wie stark die Inzidenzen seit Jahresbeginn explodiert ist, zeigt unsere Übersicht der Kreise. Warum ein Virologe trotzdem neue Verbote ablehnt.

Sie schaffen es nicht mehr, ein Hauch von Kapitulation vor dem Virus liegt in der Luft – und trotzdem bleibt der Experte gelassen: „Nein, das ist nicht schlimm“, sagt Professor Ulf Dittmer, Chef-Virologe an der Uniklinik Essen.

Die gefühlte Kapitulation sieht so aus: Das mehr als 160 Mitarbeiter starke Pandemieteam beim Gesundheitsamt des Ennepe-Ruhr-Kreises schafft es nicht einmal mehr, jeden Corona-Infizierten persönlich anzurufen und in Quarantäne zu schicken – geschweige denn Kontaktpersonen aufzuspüren. Obwohl die Bundeswehr zur Hilfe geeilt ist, obwohl Mitarbeiter anderer Abteilungen helfen, obwohl sogar eine Zeitarbeitsfirma engagiert wurde. Jetzt sollen es die Infizierten selbst richten, sich selbst in Quarantäne schicken oder auf eine Mail warten und Kontaktpersonen informieren.

Katastrophenzahlen oder Entwarnung?

Der EN-Kreis ist kein Einzelfall. Was über Monate als Ziel hochgehalten wurde: Kontakte möglichst lückenlos nachzuverfolgen, wird in immer mehr Gesundheitsämtern durch Omikron pulverisiert. Ob die beim Robert-Koch-Institut (RKI) gemeldeten Sieben-Tage-Inzidenzen tatsächlich noch die Lage widerspiegeln, ist unklar. Trotzdem sagt Virologe Dittmer: „Das ist nicht schlimm. Vor allem, wenn die nicht erfassten Fälle asymptomatisch Infizierte sind. Oder Personen, die mit wenig Symptomen einfach ein paar Tage zu Hause bleiben. Wir sollten aber versuchen, alle Infektionen im Gesundheits- und Pflegebereich zu finden. Da ist es weiter wichtig.“

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Das tut der Ennepe-Ruhr-Kreis auch weiterhin. Aber es scheint eine neue Phase der Pandemie einzutreten. Eine, mit der sich die Menschen erst zurecht finden müssen, die zwischen Katastrophenzahlen und Entwarnung pendelt.

Wie ist die Lage in der Region?

Die Sieben-Tage-Inzidenz ist in den zwölf Kreisen und Städten des Regierungsbezirks Arnsberg dramatisch gestiegen. Zur Jahreswende lag sie im Schnitt bei 147, jetzt ist sie viereinhalb mal so hoch. Allerdings: Obwohl der Wert seit Wochen stark steigt, ist noch nicht – wie in den Wellen zuvor – ein Effekt auf den Intensivstationen zu bemerken: Hier ist der Anteil der Covid-Patienten stabil. Auch die wöchentliche Zahl der Corona-Toten sinkt.

Wie hoch wird die Inzidenz noch steigen?

Prof. Dittmer hatte im Herbst prophezeit, dass in der Delta-Welle die Sieben-Tage-Inzidenz in NRW nicht höher als 400 steigen werde – und Recht behalten. Und nun in der Omikron-Welle? „Der Höhepunkt in England lag bei etwa 2000“, so der Virologe. „Mit unseren moderaten Maßnahmen der Kontaktbeschränkung könnten wir etwas darunter bleiben. Andere Nachbarländer haben aber auch Werte von über 3000. Das ist auch hier nicht ausgeschlossen.“

Sind die hohen Werte gefährlich?

Virologe Dittmer sieht eine Gefahr: „Die Omikron-Wand gefährdet unsere kritische Infrastruktur. Vor allem durch den Ausfall von Mitarbeitern – auch im Gesundheitswesen.“ Die Hospitalisierung, also die Notwendigkeit, dass Infizierte im Krankenhaus behandelt werden, werde auf Normalstationen steigen. „Das hat schon begonnen“, so Dittmer. „Diese Covid-19 Erkrankungen sind aber nicht lebensbedrohlich. Auf den Intensivstationen wird sich nur sehr wenig bis gar nichts tun. “ Krankenhäuser der Region (siehe Artikel links) bestätigen das.

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Sind weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens notwendig?

Klare Antwort des Virologen: „Nein“, sagt Professor Dittmer. „England hat diese Welle ganz ohne Kontaktbeschränkungen überstanden. Moderate Kontaktbeschränkungen sind aber vernünftig, um die Welle etwas flacher zu halten, damit nicht zu viele Menschen gleichzeitig moderat erkranken. Kinder sollten, soweit es irgendwie geht, von allen Beschränkungen ausgenommen werden.“

Prof. Dr. Ulf Dittmer , Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Essen.
Prof. Dr. Ulf Dittmer , Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Essen. © FUNKE Foto Services | STEFAN AREND

Wie groß ist der Impf-Effekt?

Seit Herbst liegen keine separaten Impfquoten mehr für die einzelnen Kreise vor. Doch auffällig ist: Etwa im Kreis Olpe, in dem damals schon mehr als 80 Prozent der Bevölkerung zumindest einmal geimpft war, ist die Lage in den Krankenhäusern sehr ruhig. Ähnliches gilt auch für die Großstadt Hagen, die ebenfalls eine hohe Impfquote hat. Kann man Rückschlüsse ziehen, wie effektiv Impfungen trotz vieler Impfdurchbrüche sind? „Ja“, sagt Virologe Dittmer. „Vielleicht nicht genau aus diesen lokalen Zahlen, aber aus Studiendaten. Das Risiko für Geimpfte durch eine Omikron-Infektion schwer zu erkranken, liegt praktisch bei Null.“ Den klaren Impf-Effekt bestätigen auch Kliniken. Die meisten Covid-Patienten seien ungeimpft, so das Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke. Seit Mitte 2021, so auch das Jung-Stilling Siegen, habe man nur ungeimpfte Patienten intensivmedizinisch behandeln müssen.

>> HINTERGRUND: So ist die Lage in den Kliniken der Region

Der bundesweite Trend lautet: Weniger schwere Covid-Fälle auf den Intensivstationen, dafür mehr Patienten auf Normalstationen. Gilt das auch für die Region? Beispiele:

  • Klinikum Hochsauerland (Arnsberg und Meschede): Seit Beginn der Pandemie wurden hier etwa 1000 Covid-Patienten versorgt. „Aktuell erwarten wir keinen dramatischen Anstieg auf der Intensivstation“, so Sprecher Richard Bornkeßel. „Die Zahl der stationären Covid-Patienten lag in den letzten sieben Tagen zwischen 5 und 20, davon zwei bis fünf auf der Intensivstation – aktuell mit leicht abnehmender Tendenz.“
  • Jung-Stilling-Krankenhaus Siegen: Im Diakonie-Klinikum, zu dem das Jung-Stilling in Siegen gehört, werden aktuell fünf Covid-Patienten auf Normal-Stationen versorgt. „Die hohen Infektionszahlen werden sich sicherlich mit einer Verzögerung auch bei der Zahl der Corona-positiven Patienten auf Normalstationen bemerkbar machen“, so Sprecherin Carolin Helsper. Und sei es weil sie bei der Aufnahme ins Krankenhaus aus einem anderem Grund positiv getestet werden.
  • Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke: Gespannte Ruhe im antroposophisch geprägten Krankenhaus in Herdecke. „Momentan versorgen wir nur eine geringe Zahl Covid-Patienten“, so Sprecherin Alexandra Schürmann. Und nur einer müsse beatmet werden. Aber: Es gebe Schwankungen.
  • Allgemeines Krankenhaus Hagen: Im hohen einstelligen und niedrigen zweistelligen Bereich liege die Zahl der mit Corona infizierten Patienten auf den Normalstationen. „Damit nehmen wir zwar eine Steigerung wahr“, so Sprecherin Maren Esser. „Allerdings ist auch festzustellen, dass diese Patienten größtenteils nicht wegen einer Covid 19-Erkrankung in unserem Haus behandelt werden, sondern diese eine Nebendiagnose darstellt.“
  • Katholische Hospitalgesellschaft Südwestfalen: Auf den Intensivstation entwickelten sich die Zahlen wie erwartet: Die Infektiösität sei deutlich höher, aber die Verläufe seien milder, so Pflegedirektor Tobias Quast. Ein ähnliches Bild auf den Normalstationen der beiden Häuser in Olpe und Lennestadt: Man habe seit Wochen stabile Zahlen. Es würden zeitgleich immer mehrere Patienten versorgt, die sich mit Corona infiziert hätten, es gebe aber nur wenige schwere Verläufe.
  • Kreisklinikum Siegen: Die Anzahl der Covid-Patienten, die derzeit auf der Intensivstation behandelt werde, sei niedriger als bei den vorherigen Wellen. 13 Covid-Patienten würden zudem aktuell auf der Isolierstation behandelt. „Eine Prognose ist schwierig“, so Sprecherin Lara Stockschläder. „Aber wir sind vorbereitet.“