Uwe Görke-Gott lebt seit 30 Jahren mit der Krankheit, die viele schon vergessen haben. Doch noch immer haben Infizierte Angst vor Ausgrenzung.

Fünf Jahre gaben ihm die Ärzte damals noch, doch Uwe Görke-Gott wollte damals, dass sein Leben noch schneller endet. Heute ist der 58-jährige Berufsunfähigkeitsrentner glücklicher denn je, dass er noch da ist. In Schwerte lebt er mit seinem 18 Jahre jüngeren Mann Benny. Hier berichtet er über sein Leben mit dem Virus:

„In dem Kinderheim in Menden, in dem ich groß wurde, hat man uns früher immer erzählt, dass es mitten im Seilersee in Iserlohn Wasserpflanzen gäbe, die dich hinabziehen in die Tiefe. Als ich die Diagnose HIV positiv hatte, fuhr ich zum Seilersee, ruderte hinaus und wollte ins Wasser springen, hoffend, dass die Pflanzen wirklich da sind. Ich wollte nicht mehr leben, nicht mit dieser Krankheit, nicht mit dem, was sie mit sich bringt. Man gab mir damals fünf Jahre, bis ich sterbe. Heute, 30 Jahre später, bin ich glücklicher denn je, dass ich noch da bin.

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Viele Menschen denken, Aids gibt es nicht mehr. Seit 40 Jahren gilt es als eigenständige Krankheit. Viel hat sich getan, vieles ist besser geworden. Aber es ist ein Leben, in dem der Tod irgendwie immer eine Rolle spielt. Einige Freunde habe ich am Virus elendig zugrunde gehen sehen. Und noch immer werden HIV-Infizierte gemieden, geächtet, diskriminiert. Selbst dort, wo man es nicht erwartet.

Ich kann gar nicht mehr genau sagen, was mich damals am Seilersee genau abgehalten hat. Ich weiß nur, dass mein Leben bis dahin schon schwierig genug war. Fünf Geschwister habe ich, unsere Eltern gaben uns aber früh weg. Mein Bruder ist ein verurteilter Vergewaltiger und Mörder.

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An einen Tag im Heim erinnere ich mich besonders: Ein Dutzend Kinder durfte sich aufstellen, weil Familien kamen, die sich nach und nach ihr Wunschkind aussuchten. Nur einer blieb übrig: ich. Bis ich volljährig war, blieb ich in dem Heim, machte eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann, ging zum Bund, fing als Hilfsarbeiter in einer Druckerei in Hagen an. Mit Mitte 20 merkte ich, dass ich schwul bin. Den Virus holte ich mir bei meinem ersten Freund.

Ich fiel in ein tiefes Loch, ein Jahr lang bekam ich mein Leben nicht mehr auf die Reihe. Alles war mir zu viel. Ich wusste damals lange nicht, ob es der Virus ist, der mich kaputt macht, oder die Gesellschaft. Ich wurde gemieden: bei der Arbeit, im Privaten, von Menschen sogar, die ich für Freunde hielt. So war das in den 90er Jahren: Mit HIV warst du fast ein Aussätziger, vor dem man Angst haben musste, weil er Krankheit und Tod bringt. Das war das Stigma. Ich musste mich ins Leben zurückkämpfen. Das ging nur, indem ich und meine Krankheit gesehen und verstanden werden.

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Der Gang in die Öffentlichkeit war erst Selbstschutz, später Überzeugung. Bei Ilona Christen war ich, bei Bärbel Schäfer auch, bei Arabella Kiesbauer und „B trifft…“. Talksendungen, in denen ich Homosexualität und HIV ein Gesicht gab, und nach denen mir Hunderte Menschen Briefe schrieben. Ich wollte und will anderen Mut geben. In Schulen machte ich Aufklärungsarbeit, arbeitete mit der Aids-Hilfe zusammen. 2013 erhielt ich für mein Engagement und meine Präventionsarbeit die Bundesverdienstmedaille. Aber ich weiß, dass so viel Öffentlichkeit auch einen anderen kleinen Teil der Bevölkerung auf den Plan ruft.

Einmal hatte ich einen Drohbrief mit zusammengeklebten Buchstaben im Briefkasten: „Du schwules Arschloch. Ab mit dir in die Gaskammer.“ Eine brennende Puppe hing bei uns im Garagenhof, „Aids-Fotze“ stand auf der Garage. Gegenwind gab es immer. Aber ich dachte: Die kriegen dich nicht klein!

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Bis heute hängt eine große rote Aids-Schleife bei uns am Balkon in Schwerte, wo ich mit meinem Mann Benny wohne. Er ist 18 Jahre jünger als ich. Ich dachte erst: Was findet er an mir? Viel älter – und dann auch noch positiv. Aber wir leben hier ganz offen und von allen akzeptiert, mit vielen Freunden und wunderbaren Nachbarn. Das gibt mir unglaublich viel Kraft. Für Bennys Familie war das alles erst nicht leicht. Weihnachten haben wir nun bei ihnen verbracht.

Mein Leben ist jetzt besser, als ich es mir je erträumt habe. Durch meine Krankheit bin ich zwar schon lange berufsunfähig, bin aber für die SPD in den Rat der Stadt Schwerte eingezogen. Ich versuche weiter, anderen zu helfen. So wie ich es immer versucht habe.

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Eine Tablette am Tag nehme ich heutzutage nur noch, um meine Krankheit, die immer noch in mir ist und jederzeit wieder zum Vorschein kommen kann, unter Kontrolle zu halten. Der Weg dorthin war eine Tortur: Hochdosierte Medikamenten-Cocktails wurden mir verabreicht, die massive Nebenwirkungen hatten: Übelkeit, Erbrechen, Hautausschlag, Schwermütigkeit, Durchfall, Schwindel. Was neu war und Heilung oder wenigstens Aufschub versprach, wurde an uns ausprobiert.

Jedes Medikament war ein Strohhalm, an den ich mich über Jahre klammerte. Wann immer ich in meine Klinik fuhr, sah ich die, die das nächste und übernächste Stadium der Krankheit schon erreicht hatten. Ich bin einer der Glücklichen, die überlebt haben.

Aber geben Sie doch einmal beim Arzt oder sonstwo an, dass Sie HIV positiv sind. Dann bricht manchmal blanke Panik aus. Selbst heute noch. Das ist der Grund, warum sich viele, viele Betroffene selbst im Jahre 2021 noch verstecken: Sie haben Angst vor der Gesellschaft, vor Ausgrenzung. Bei keiner anderen Krankheit muss man sich so rechtfertigen. Ich will weiter sichtbar sein, damit das eines Tages ein Ende hat. Zeit habe ich ja noch: Ich habe mir vorgenommen, 114 Jahre alt zu werden.“

>> HINTERGRUND: Serie „Mein Leben“

  • Die Serie „Mein Leben“, die jüngst mit dem European Newspaper Award ausgezeichnet wurde, befasst sich mit Menschen, die sich rechtfertigen müssen, für das, was sie sind oder sein wollen.
  • Menschen, die klassischen Erwartungen freiwillig nicht entsprechen oder in ein Leben hineingeboren wurden, das ihnen Vorurteile und Diskriminierungen beschert. Kernfrage: Wie offen und unbefangen ist der Umgang miteinander? Alle Folgen finden Sie unter: www.wp.de/mein-leben