Bad Berleburg. Sie wollte helfen, das Osterfeuer aufzubauen – doch es endete in einem Unglück. Laura Pott (17) aus Bad Berleburg sitzt seitdem Rollstuhl.
Bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, war Laura Pott an dem Ort, an dem es passierte. Ganz bewusst, um abzuschließen, sagt sie. „Ich wollte einfach nochmal da sein.“ Vom Auto der Mama aus schaute die 17-Jährige Richtung Dorfsportplatz.
„Ich habe kurz an einen komischen Traum gedacht, den ich hatte.“ Wie sie unweit von der Stelle beerdigt werden sollte, wie sie das verhindern wollte, weil ihre Mutter doch noch nicht da war, wie aber trotzdem alle weitermachten.
Sie schaute noch ein wenig. Dann fuhren sie wieder. So erzählt sie davon. Abschließen – wie soll man abschließen mit einem Tag, der alles so sehr verändert?
Arbeitseinsatz: Die Dorfjugend baut das Osterfeuer auf
Eigentlich war der 7. März 2020 ein schöner Tag in diesem Örtchen namens Berghausen bei Bad Berleburg im Edertal. Fachwerkhäuser, Jägerzäune, 1500 Einwohner. Dort ist die Welt schön und überschaubar. Laura überlegt an diesem Samstagabend: Bleibe ich daheim oder gehe ich noch los? Schlafen, sagt sie, kann sie auch noch, wenn sie alt ist. Sie verabschiedet sich von ihrer Mama. Am Sportplatz baut die Dorfjugend das Osterfeuer auf.
Laura hat vom zurückliegenden Jahr ein Fotobuch angefertigt. Es liegt auf dem Küchentisch. Eine Erinnerung an das, was geschah. Ein Beleg für Lauras Kraft und Zuversicht und Optimismus. Bilder sind in dem Album vom Unfallort, von ihren Narben am Kopf, den Rippen, dem Oberschenkel. Bilder die sie in der Uni-Klinik Gießen zeigen. Vier Wochen lang war sie dort. Sie lacht oft, reckt den Daumen in die Höhe. Bilder, wie sie sich in der Reha zurückkämpft. Acht Monate lang. Bilder, auf denen sie im Rollstuhl sitzt. Wie jetzt am Küchentisch.
Die Narben am Körper schmerzen noch
Sie löst die Bremse, setzt mit sicherem Griff ein Stück zurück, fasst sich an die Rippen. Die Narben schmerzen noch immer. „Ich bin dankbar, dass ich noch da bin, und stolz, dass ich es geschafft habe.“ So blickt sie auf diese Zeit.
Über mehrere Wochen wird das Osterfeuer in Berghausen stets von Helfern aufgebaut. Entlang eines Gerüsts, das meterlange schwere Holzstangen bilden. Bis heute weiß niemand, warum sie sich lösen, wie die 300 Kilogramm auf sie stürzen konnten – und warum Laura nicht vielleicht einen Meter weiter links steht oder rechts. Warum sie nicht wie geplant ihre Freundin besucht hatte, die in der Nähe wohnt und die am späten Abend Nachrichten auf Lauras Handy schickt, weil sie wissen will, was da am Sportplatz los ist. Nachrichten, die an diesem Abend niemand mehr liest.
Nach einer Woche ist Laura Pott außer Lebensgefahr
Schädel-Hirn-Trauma, gebrochene Rippen, kollabierte Lungenflügel, Oberschenkelbruch, Schien- und Wadenbeinbruch. Ein Helikopter bringt Laura nach Gießen. Um 23.30 Uhr wird sie eingeliefert. Um 0.15 Uhr, sagt Mutter Mechthild Pott, sei die Ärztin zu ihr gekommen. „Ihre Tochter“, sagt die Medizinerin, „wird nie wieder laufen können.“ Sie ist querschnittsgelähmt. In einer ersten neunstündigen OP kämpfen die Ärzte um Lauras Leben. Sieben weitere Eingriffe folgen noch. Nach einer Woche ist sie außer Lebensgefahr.
Die Rückkehr ins Leben in Berghausen ist nicht leicht. „Der eine oder andere weiß gar nicht, wie er mit mir umgehen soll“, sagt Laura Pott. Der Oberkörper schmerzt. Muskelkater von den Touren mit dem Handbike. Unzählige Schrauben und Stangen halten ihren Körper noch zusammen. Manchmal glaubt sie, jede einzelne zu fühlen.
Sie sieht auf ihren Touren viele Menschen. Menschen, die ihr nachschauen, die sie reden hört. Laut genug, um es zu hören, leise genug, um es nicht zu verstehen. „Ich wünsche mir, dass man normal mit mir umgeht. Und normal ist natürlich auch, mich zu fragen, wie es mir geht. Das finde ich doch schön.“
Der Traum, Lkw-Fahrerin zu werden, zerplatzt
Sie merkt früh im Krankenhaus, dass sie die Beine nicht bewegen kann. An den Moment, als sie erfährt, dass das so bleibt, erinnert sie sich. „Die Psychologin stand links an meinem Bett, meine Mutter rechts: Sie sagten, dass sie mir was sagen müssten.“ Sie weint. Ihr erster Gedanke ist, dass sie nun nicht mehr Lkw-Fahrerin werden kann. Das ist ihr Traum.
Ihr Opa und ihr Papa waren Lkw-Fahrer. Der Vater stirbt 2012 an Lungenkrebs. In seinem Grab liegt der gleiche Teddybär, den Laura immer bei sich hat. „Der Papa-Bär“, sagt sie. Er gibt ihr in der Reha Kraft, wenn sie ihr ausgeht. „Ich habe echt viel geheult in der Zeit.“ Sie sagt heulen, weil weinen nach noch mehr Verletzlichkeit klingt. Sie will damals nur nach Hause, sie vermisst den Papa, vermisst die Mama, die so selten zu Besuch kommen darf wegen des Coronavirus.
Seit dem 4. Dezember ist sie wieder zu Hause. Einer der ersten Wege führt zum Sportplatz.
7. März: Natürlich werde ich daran denken, was letztes Jahr war
Zu Hause sieht es völlig anders aus. Das Erdgeschoss beherbergt nicht mehr die Waschküche und Kellerräume, sondern ihre Wohnung: barrierefreie Zuwegung, barrierefreies Bad, ein Lift fährt sie zwischen den Etagen hin und her.
Sie rollt in ihr Zimmer, der Rollstuhl schrammt ans Bett. Sie lernt jeden Tag, sich in ihrem neuen Leben zurechtzufinden. Anziehen geht zum Beispiel schon ganz allein. Manche Freunde, von denen sie dachte, dass sie an ihrer Seite stünden, hat sie da nicht vorgefunden. Manch andere, von denen sie das nicht unbedingt erwartete, schon.
Dieses Jahr sei unglaublich schnell herumgegangen, sagt sie, während sie das vordere Teil des Handbikes an den Rollstuhl montiert. Erster Versuch. Klappt nicht. „Vorführeffekt“, lacht sie. Zweiter Versuch. Der Metallstift rastet ein.
Ob das Datum, das sich an diesem Wochenende erstmals jährt, etwas in ihr auslöst? „Natürlich werde ich daran denken, was vor einem Jahr war“, sagt sie, „aber ich werde nicht den ganzen Tag dasitzen und weinen.“
Abends, allein - dann kreisen die Gedanken
So ist sie nicht, so will sie nicht sein, auch wenn es manchmal schwerfällt. Sie hat schon in der Kur in Reinhardshausen bei Bad Wildungen den Führerschein angefangen. Das ist ihr nächstes Ziel. Sie kann sich eine Ausbildung zur Speditionskauffrau vorstellen. Da sind die Lkw wenigstens nicht weit. „Wenn man schöne Tage hat, ist alles gut. Wenn man aber Zeit zum Nachdenken hat, abends, allein…“ Sie spricht den Satz nicht weiter. Rückschläge schmerzen, kosten Kraft. „Natürlich geht’s mir manchmal scheiße.“
Die Sonne scheint ins Tal, ein Bach plätschert vor der Haustür, der Wind frischt auf. Laura Pott will noch eine Runde drehen. Neulich waren es 20 Kilometer. Sie setzt die Sonnenbrille auf, steckt die mobile Musikbox in die Tasche hinter der Rückenlehne. „Man muss es sich schön machen“, sagt sie. „Ich bin noch jung, ich kann noch viele schöne Dinge erleben.“
Es ist eine Reise, die gerade erst begonnen hat. Die Arme greifen in die Pedale. So entschlossen, dass das Vorderrad auf dem Asphalt durchdreht.