Hagen. Warum war die Band Grobschnitt aus Hagen so erfolgreich? Eine musikalische Spurensuche mit vielen Geschichten

Zurück in die Zukunft? Oder doch vorwärts in die Vergangenheit? Die Band Grobschnitt verwandelt Musik in eine Zeitmaschine, die in beide Richtungen funktioniert. Gegründet als Schülerkapelle in Hagen, wird Grobschnitt zur seinerzeit erfolgreichsten Rockband Deutschlands und lässt nun ein halbes Jahrhundert Musikgeschichte in einer Ausstellung im Hagener Osthaus-Museum Revue passieren.

Gerd Kühn-Scholz alias Lupo weiß gar nicht, wo er anfangen soll. So viele Erinnerungen, Begegnungen, Abenteuer. Und so viel Musik, die aktueller ist denn je. „Heute ist ein schöner Tag“, mit dieser Zeile aus dem apokalyptischen Song „Vater Schmidt’s Wandertag“ hat Kuratorin Heike Wahnbaeck die Schau „50 Jahre Grobschnitt“ überschrieben, die bis zum 21. November läuft. Plattenhüllen, Zeitungsberichte, Plakate, Tourpläne, Bühnenkostüme, Fanpost, der Nachbau einer Bühne mit Schlagzeug, original rekonstruiertem Keyboard und Verstärker, dazu zwei Stunden teils unveröffentlichtes Filmmaterial: Im Souterrain des Osthaus-Museums verlieren sich viele Besucher in glückselige Erinnerungen an einzigartige Konzerte.

Vater Schmidt’s Wandertag

„Es gibt Geschichten, die glaubt kein Mensch“, sagt Lupo, Gitarrist und Gründungsmitglied. „Wir waren die erste Hagener Band, die einen Plattenvertrag hatte.“ Und das kommt so. Mit einer Aufnahme auf Band unter dem Arm fährt die Gruppe nach Hamburg. Dort schaut Kühn-Scholz im Telefonhäuschen in den gelben Seiten nach, welche Plattenfirmen es gibt. Er kommt tatsächlich bei einer durch, wird aber wieder nach Hause geschickt. Im zweiten Anlauf klappt es dann mit Metronome Records; die erste LP „Grobschnitt“ wird im Dezember 1971 im Hamburger Windrose Studio aufgenommen. Inzwischen liegen alle LPs in remasterten Versionen vor.

Beste Liveband der Welt

Grobschnitt tritt 1978 im Rockpalast in der Westfalenhalle auf, wird zur besten Liveband der Welt gewählt, spielt in den großen Sälen, meldet ausgebuchte Tourneen, verkauft von jeder LP um die 100.000 Exemplare. 80 Minuten dauert der Rockpalast Auftritt, geliefert werden genau drei Stücke: Solar Music, Vater Schmidt’s Wandertag und Come on People. Grobschnitt ist die unerhörte Band, die Kapelle mit dem Experimentier-Gen, die Gruppe mit den deutschen Texten. Grobschnitt gelten als Erfinder der Bühnenshows, sie arbeiten mit Pyrotechnik, zwei Schlagzeuger sind an Bord, schon auf der ersten LP gibt es ein Stück mit klassischem Streichquartett, vor der Erfindung des Synthesizers setzt die Band das Mellotron ein, die analoge Urform des Samplers.

Es ging damals noch um Musik

„Das Mellotron war eine Sache für sich“, erinnert sich Gründungsmitglied Stefan Danielak (Gesang, Gitarre, Saxophon) alias Willi Wildschwein: „Man konnte durch Tastendruck Streicher, Chor und Trompeten abrufen, da liefen Bänder im Hintergrund. Wir haben es wie ein rohes Ei behandelt, aber live war das Biest sehr anfällig.“

Drei Songs in 80 Minuten. Warum haben die Fans das mitgemacht? „Es ging damals wirklich noch um Musik, um Kultur“, analysiert Stefan Danielak. Rockmusik ist etwas Neues und nicht allgegenwärtig. Tonträger sind selten und kostbar, Filmmaterial noch mehr, die drei existierenden Fernsehsender und die öffentlich-rechtlichen Radioprogramme bilden die einzige Möglichkeit, neue Musik kennenzulernen. Plattenläden werden zu regelrechten Kulturtempeln. „Wenn Rockpalast war, haben sich die Leute getroffen und gemeinsam richtig zugehört. Heute redet man, während eine Band spielt, und Musik läuft nur noch als Berieslung im Hintergrund. In den 1980ern drehte sich das. Da wurde es geschäftsmäßiger, da kamen die Anfragen: Könnt ihr auch mal ein Stück machen, das im Radio gespielt wird.“ Mit der Single „Wir wollen leben“ ist Grobschnitt im August 1982 um 20.15 Uhr, also zur Hauptsendezeit, im Musikladen der ARD eingeladen.

Alles selbst gemacht

Vor 50 Jahren hat noch die Freundin von Stefan Danielak seine Bühnenkostüme genäht, seine heutige Ehefrau. Die Musiker improvisieren nicht nur musikalisch, es gibt ja noch kein Equipment zu kaufen. „Wir haben alles selber gemacht“, sagt Gerd Kühn-Scholz. „Ich hatte eine kaufmännische Ausbildung und wurde der Manager, Stefan war Finanzbeamter, der hat sich um die Steuern gekümmert, Eroc Ehrig war Chemielaborant, der war für die Pyrotechnik zuständig.“ Selbst den Beruf des Tourtechnikers gibt es noch nicht, Grobschnitt ist die erste Band, die in diesem Fach ausbildet.

Alle 12 Monate eine neue Platte, 100 Konzerte im Jahr. „Wir waren jung und voller Power“, blickt Stefan Danielak zurück. Die Bandmitglieder geben ihre bürgerlichen Berufe auf, damit sie täglich proben können. Grobschnitt ernährt die Familien: „Wir hatten so viele Ideen.“ Knapp 20 Jahre und 2000 Konzerte später ist der Traum vom Leben als berühmter Rockstar mürbe geworden. Stefan Danielak: „Ich konnte kein Hotel mehr sehen, ich hatte Ekel vor Hotels. Ich hatte zwei Kinder, die kannte ich gar nicht.“

Ein natürliches Ende in Frieden

1989 löst sich Grobschnitt auf, eine Entscheidung, die damals richtig war und falsch zugleich. „Das war ein ganz natürliches Ende in Frieden. Wir waren in unseren 40ern, damals warst Du damit ein Rockopa. Im Nachhinein war es bescheuert, kurz darauf kam die Wiedervereinigung, da hätten wir die Chance gehabt, vor ganz neuen Leuten aufzutreten, die uns nicht kannten“, konstatiert Danielak.

Einmal Musiker, immer Musiker. Heute hören viele junge Leute wieder Grobschnitt. Die Fans melden sich sogar aus Brasilien. Die Stücke klingen immer noch frisch und wie jenseits der ausgetretenen Pfade komponiert. Die Texte sind im Zeitalter von Klimakrise und Rechtspopulismus hochaktuell: „Hurra wir sind ja so modern, von Sorgen fern lebt unser Stern.“ Grobschnitt macht daher live weiter, in kleiner Vater-Sohn-Akustik-Bestzung mit drei Gitarren und Gesang. Gerd Kühn, Stefan Danielak und Stefan Danielak junior gehen in dieser Formation auf Tournee. Und das ist wieder ein Ritt in der Zeitmaschine. Stefan Danielak: „Wenn Du unsere alten Stücke für drei Gitarren umschreibst, entstehen ganz neue Werke. Jeder Ton erhält eine umso größere Bedeutung, je weniger Elektronik daran hängt. Wir arbeiten gerade an unserem Weihnachtskonzert für die Hagener Johanniskirche am Markt, das liegt uns sehr am Herzen.“

Die Tourdaten der Grobschnitt Acoustic Party gibt es unter: www.grobschnitt.rocks

Die Ausstellung läuft bis zum 21. November 2021: www.osthausmuseum.de