Hagen. Das neu bezogene Haus ist beschädigt, die Erinnerungen an den verstorbenen Vater vernichtet: Wie Familie Yamungu das Hochwasser in Hagen trifft.

Ein bisschen sieht es so aus, als fehle Jean-Luc Yamungu sogar gerade die Kraft, sich gegen die Hitze zu wehren. Der 20-Jährige steht in der prallen Sonne vor dem Haus, neben den schlammigen, modrig riechenden Müllbergen. Er stützt sich auf einem Besen ab, Schweißperlen im Gesicht, eine Jogginganzugjacke am Oberkörper, der Blick geht ins Leere. Die Füße hat er gerade wieder in die Schuhe gesteckt, trotz der leuchtend roten Blutblase am Zeh. „Ich kann nicht mehr“, sagt er, „wir sind verzweifelt.“

Starkregen in Hagen: Lieferwagen schwimmen vorbei wie Spielzeugautos

Vor etwa einem Jahr sind die Yamungus in ihr Haus gezogen in Hagen-Hohenlimburg: Mama, Papa und vier von sechs Kindern. Endlich das eigene Heim, ein Großteil der Familie unter dem eigenen Dach. So sollte das sein. Kurz nach dem Einzug verstarb der schwer kranke Papa. Sie haben ihn vorher nicht mehr besuchen können im Krankenhaus, sagt Jean-Luc, wegen Corona.

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Hagen hat der Starkregen bundesweit mit am schlimmsten getroffen. Die Yamungus wohnen dort, wo am Mittwoch eine Straße zu einem knietiefen Fluss wurde: Lieferwagen schwammen am Küchenfenster vorbei als seien sie Spielzeugautos. „Wie im Film war das“, sagt Jean-Luc. Der renovierte Keller stand mannshoch unter Wasser, auch ins frisch renovierte Erdgeschoss drang es teilweise ein.

Im Halbstunden-Takt werden die Müll-Container voll

Jean-Luc und seine Geschwister kümmern sich jetzt um alles, die kranke Mama haben sie zu Freunden geschickt, damit sie all das nicht mitmachen muss, damit sie nicht sehen muss, wie alles weggeworfen wird. Vieles lagerte noch im Keller, weil die zweite und dritte Etage noch nicht fertiggestellt sind: Drucker, Fernseher, Kühlschrank, Tische, Schränke. Im Halbstunden-Takt kommen die Müll-Container der Stadt. Alles wandert hinein. In den vergangenen Tagen haben sie den Schlick aus dem Keller geschaufelt. Die Feuerwehr, die sie Mittwoch um 1 Uhr riefen, sei noch nicht da gewesen.

Aufräumarbeiten: Audrey Yamungu verstaut den kleinteiligen Müll, den die Familie aus dem Keller vor die Tür geräumt hat, in blauen Säcken zu verstauen.
Aufräumarbeiten: Audrey Yamungu verstaut den kleinteiligen Müll, den die Familie aus dem Keller vor die Tür geräumt hat, in blauen Säcken zu verstauen. © FUNKE Foto Services | Andreas Buck

Audrey, die Schwester, schaufelt vor der Tür einzelne Teile zusammen mit dem getrockneten Matsch in blaue Säcke: den Stöckelschuh der Mama, der die richtige Wahl bei feierlichen Anlässen gewesen sein muss, die Schallplatte „Die Superhitparade“ mit Liedern wie „Und es war Sommer“, die alten Uni-Unterlagen der Schwester. „Im Keller waren auch alte Bilder von uns, Bilder von meinem Vater und seine Tagebuchnotizen“, sagt Jean-Luc. Unbezahlbar, unwiederbringlich weg. Manches andere kann man neu kaufen. Die Frage ist nur: von welchem Geld?

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Betreiber des Restaurants gegenüber sammelt Spenden für die Familie

„Wir zahlen ja noch das Haus ab“, sagt Jean-Luc. Es ist das erste Eigenheim der Familie, dass man eine Elementarschaden-Versicherung brauchen könnte, die solche Schäden abdeckt, wussten sie nicht. „Wir machen uns Sorgen, wie wir das alles bezahlen sollen. Im Keller steht ja auch die Heizung, die war unter Wasser“, sagt Jean-Luc und lässt diesen Satz wie eine Drohung stehen. Der Betreiber des Restaurants gegenüber sammelt Spenden für die Familie, Audrey hat eine Spendenseite erstellt (www.gofundme.com, Stichwort Yamungu). Seit Tagen duscht die Familie kalt. Immerhin der Strom funktioniert.

„Schaut mal, was ich gefunden habe“, ruft Audrey. Sie streicht mit den behandschuhten Fingern über den getrockneten Lehm, unter einer Glasscheibe wird ihre Mama sichtbar, daneben ihr Papa. Ein gerahmtes Bild von 1988. Die Geschwister lächeln. Jeder Fund macht aber auch klar, wie viel nicht mehr gerettet werden konnte.

Abwesend, kraftlos, traurig

Audrey studiert Heilpädagogik, Jean-Luc beginnt im August ein duales Studium. Aber das ist gerade weit weg. „Ich habe den Bezug zum Alltag völlig verloren“, sagt er und wirft einen Sack in den Container. Er wirkt abwesend, kraftlos, traurig. Die Nachbarn helfen und wuchten eine Kommode in den Müll. Der Container zieht ein Haus weiter, die Yamungus gehen mit und helfen dort.

„Das einzig Positive“, sagt Jean Luc, „ist die große Solidarität und Hilfsbereitschaft unter den Nachbarn.“ Er hat diesen Satz kaum ausgesprochen, als eine Frau vorfährt, die ein paar Straßen weiter wohnt. Sie hatte Wasser vor dem Haus, nicht im Haus. Sie hat gebacken, ein riesiges Tablett voll. „Für euch“, sagt sie. Jean-Luc fasst sich mit der rechten Hand ans Herz und sagt: „Sie ahnen nicht, welche Freude Sie mir machen.“ Er lächelt endlich. Die Schwester nimmt den Kuchen an sich – und sagt, dass sie ihn an die Nachbarn verteilen wird.