Hagen. Die Inzidenzen waren vor einem Jahr in der Region ähnlich niedrig wie heute. Was die Situation heute unterscheidet und was ein Virologe sagt.

Alles im grünen Bereich. Die Inzidenzen sinken, selbst Hagen hat jetzt weniger als 20 Corona-Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche. Und die Lockerung ermöglichen ein immer normaleres Alltagsleben. Aber hatten wir das nicht alles schon einmal? Wähnten wir uns nicht schon einmal im vergangenen Jahr als Sieger über die Pandemie, um dann von zwei weiteren Virus-Wellen überrollt zu werden? Macht uns die Delta-Variante wieder einen Strich durch die Rechnung?

Wie unterscheidet sich die Situation heute von der vor einem Jahr?

Beim Blick auf die aktuellen Inzidenzen auf den ersten Blick wenig. Sie liegen zwar in einigen Kreisen der Region etwa höher als am 24. Juni 2020, aber weit unterhalb von kritischen Grenzwerten. Was den Unterscheid deutlich macht: Vor einem Jahr waren wir schon im Mai auf einem weitaus niedrigeren Infektions-Niveau. In diesem Jahr gab es im Mai teils noch sehr hohe Infektionsraten. Was sich positiv unterscheidet: Vor einem Jahr gab es noch keinen Impfstoff, jetzt haben in allen Kreisen und Städten der Region mindestens 50 Prozent der Einwohner schon die erste Spritze erhalten – von gut 52 Prozent im Märkischen Kreis bis gut 68 Prozent im Kreis Olpe. Den vollen Impfschutz haben zwischen 33 Prozent im Kreis Siegen-Wittgenstein bis 45 Prozent im Kreis Olpe.

Region Inzidenzen heute und vor einem Jahr
Region Inzidenzen heute und vor einem Jahr © WP Hagen | Manuela Nossutta/Funkegrafik NRW

Schützt der Impf-Erfolg vor einer vierten Welle, die die Delta-Variante verursachen könnte?

Ja, aber es muss noch schneller voran gehen. Die Delta-Variante verursacht vor allem Infektionen bei jüngeren Menschen, die noch nicht geimpft sind, oder bei nur einmal Geimpften“, sagt Professor Ulf Dittmer, Direktor des Instituts für Virologie der Uniklinik Essen. „Diese Gruppen gibt es auch weiter in Deutschland, so dass auch hier eine Gefahr besteht, dass Fallzahlen wieder steigen könnten.“ Und: Mit der Delta-Variante müsse man vermutlich einehöhere Impfquote als die vorher angenommenen 65 bis 75 Prozent für eine Herdenimmunität erzielen. „Möglicherweise müssen wir 80 Prozent erreichen, weil das Virus infektiöser ist. Bis zum Herbst sollten wir mit dem Impfprogramm deutlich weitergekommen sein. Dann besteht das Hauptrisiko einer gefährlichen COVID-19 Erkrankung für die hoffentlich wenigen Personen, die sich nicht impfen lassen.“

Wie verbreitet ist die Delta-Variante derzeit in der Region?

Der Anteil wächst, die absoluten Fallzahlen sind aber noch gering. In Hagen sind es bislang mindestens 20 Fälle, in Siegen-Wittgenstein 16, im Märkischen Kreis 21, im Ennepe-Ruhr-Kreis 10 und im Hochsauerlandkreis 7. Im Kreis Olpe gibt es bislang einen Fall. Erhöhte Wachsamkeit ist in den Kreisen angesagt, spezielle Maßnahmen können dort aber nicht getroffen werden. Bis auf die Tatsache, dass auch genesene oder komplett geimpfte Kontaktpersonen in Quarantäne bleiben müssen. Das ist bei der „Wild-Form“ des Virus oder den anderen Varianten nicht nötig. „Außerdem ist unser Gesundheitsamt sehr großzügig bei der Deklaration von Kontaktpersonen, damit uns keine Fälle entgehen“, so Clara Treude, Sprecherin der Stadt Hagen.

Lockern wir derzeit zu viel?

„Zum Teil“, sagt Ulf Dittmer. Die Maskenpflicht in Gebäuden müsse aufrecht erhalten bleiben – auch in Schulgebäuden. Der Virologe hält nichts davon, dass die Testpflicht bei niedrigen Inzidenzen auch in geschlossenen Räumen aufgehoben worden ist. „Wenn der Mund-Nasen-Schutz etwa in Restaurants abgesetzt werden muss, sollten die drei G’s – getestet, genesen oder geimpft – weiterhin angewendet werden. Feiern in Gebäuden sollten weiter auf eine begrenzte Anzahl von Personen beschränkt werden, die alle die drei G’s erfüllen. Reiserückkehrer aus Risikogebieten müssen getestet werden.“

Ist das Land NRW darauf vorbereitet, wenn die Inzidenzen wieder sprungartig steigen?

Bedingt, denn einiges ist noch nicht geregelt. Man beobachte die Entwicklung in anderen Ländern, in denen die Delta-Variante offensichtlich wieder zu einem erheblichen Anstieg der Infektionszahlen geführt habe, sehr genau, so ein Sprecher des NRW-Gesundheitsministeriums. Wenn die Inzidenz-Grenzwerte von 35 und 50 in den einzelnen Kreisen und Großstädten überschritten werden, dann greifen die Regeln der Coronaschutzverordnung automatisch wieder mit schärferen Schutzmaßnahmen und mehr Einschränkungen. Unklar ist allerdings, was bei Überschreiten der Grenze von 100 geschieht. Dann würde eigentlich die Bundesnotbremse mit Ausgangssperren und Wechselunterricht greifen. Doch die Regelung läuft am 30. Juni aus. „Dann bliebe zunächst abzuwarten, ob der Bund die Bundesnotbremse wieder in Kraft setzt“, so das NRW-Gesundheitsministerium. Ansonsten müsse das Land prüfen, welche Maßnahmen dann zu ergreifen seien. Doch angesichts der aktuellen Entwicklung bedürfe es da keiner Spekulationen: „Das Land verfügt nach 15 Monaten Pandemiemanagement über genug Instrumente und Erfahrungen, um schnell entsprechende Regelungen zu erlassen.“

Könnten auch ganze Kreise und Regionen komplett abgeriegelt werden, wenn dort die Delta-Variante grassiert?

In NRW mit großen, ineinander verwobenen und eng besiedelten Ballungsräumen sei die Abriegelung von Infektionsherden deutlich schwerer vorstellbar als etwa jüngst in Portugal, so das Ministerium. Auch bei dem Infektionsausbruch in einem großen Schlachtbetrieb im vergangenen Jahr, bei dem für die betroffenen Kreise Gütersloh und Warendorf härtere Schutzmaßnahmen angeordnet wurden als für den Rest des Landes, habe es keine Ein- und Ausreisebeschränkungen gegeben.