Meschede/Bad Berleburg. Wie sieht die Zukunft der umstrittenen Wisente am Rothaarsteig aus? Wissenschaftler entwickeln Szenarien. Ein exklusiver Blick in ihr Gutachten.
Sie sind einzigartig in Deutschland, sie sollen helfen, eine ganze Tierart vor dem Aussterben zu retten, sie steigern den Bekanntheitsgrad des Sauerlands und Wittgensteins – aber sie schädigen auch die Bäume, weil sie deren Rinde fressen. Die Zukunft der Wisente im Rothaargebirge steht auf dem Spiel. Wie soll das Auswilderungsprojekt weitergehen? Und was dürfen Natur- und Artenschutz kosten?
Klar ist: Die von NRW-Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) favorisierte Gatter-Lösung für die Wisente ist zunächst das teuerste aller Szenarien für das weitere Schicksal des Artenschutzvorhabens – jedenfalls mit Blick auf die Anfangsinvestitionen. Ein dauerhaftes Großgatter würde in den ersten drei Jahren insgesamt etwa 2,6 Millionen Euro kosten – mit einem jährlichen Folgeaufwand zwischen 250.000 und 300.000 Euro. Das geht aus einem Gutachten des Instituts für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung an der Hochschule Hannover hervor. Die rund 180 Seiten starke Expertise, die dieser Zeitung vorliegt, soll die Entscheidung über die Wisente unterstützen.
Deutschlands einzige freilebende Wisentherde ist seit Jahren Ursache für einen erbitterten Streit zwischen Waldbauern und Trägerverein, der auch vor Gerichten ausgetragen wird. Die Tiere fressen die Rinde von Buchen. Wegen des finanziellen Schadens verklagen Forstbesitzer den Trägerverein. Schon längst tummeln sich die größten Landsäuger Europas nicht mehr nur im Kreis Siegen-Wittgenstein, sondern auch im Hochsauerland.
Das Oberlandesgericht in Hamm will am 15. Juli über das Auswilderungsprojekt entscheiden und wird sich dabei auch auf das unabhängige Gutachten berufen. Die Fachleute aus Hannover zeichnen vier Szenarien auf.
Szenario 1: Großgatter
Das Millionen Euro teure Großgatter ist die aufwendigste Lösung. Es müsste mindestens 5000 Hektar groß sein, so dass die Länge des Zaunes etwa 45 Kilometer erreichen würde. Für ein solches Gatter müsse ein ausreichendes zusammenhängendes Gebiet zur Verfügung gestellt werden, „was nur auf den Flächen der Wittgenstein-Berleburgschen Rentkammer mit 13.000 Hektar Waldfläche gewährleistet werden könnte“, schreiben die Experten. Die Absperrung müsse wisentsicher sein, also mindestens 140 Zentimeter hoch und über einen vorgebauten Elektrozaun verfügen. Gleichzeitig müsse der Zaun aber andere Tierarten und Menschen durchlassen können. Nachteil dieser Variante: Von freilebenden Wisenten kann dann eigentlich nicht mehr die Rede sein...
Szenario 2: Umsiedlung
Das Szenario Abbruch des Projektes mit einer Umsiedlung der Tiere in eine andere Region würde mit 400.000 Euro zu Buche schlagen. Allerdings müssten in diesem Fall mögliche Einnahmen aus dem Verkauf gegengerechnet werden. Die schon jetzt eingezäunte Wisent-Wildnis könnte als Tierpark- und Erlebniszentrum weiter betrieben werden, „verliert aber an Attraktivität ohne das freilebende Pendant“.
Szenario 3: Herrenlosigkeit
Dritte Alternative ist die Überführung der Tiere in die Herrenlosigkeit. Sie hätte zur Folge, dass die Wisente niemandem mehr gehören; derzeit befinden sie sich im Besitz des Trägerverein. Ein dauerhaftes Monitoring und Management der Herde ist aber trotzdem erforderlich, um sie selbst und ihre Umwelt zu schützen. In diesem Fall würden die Wisente unter anderem mit GPS-Sendern ausgestattet, damit sie zurückgetrieben werden können, sollten sie die für sie vorgesehene Fläche verlassen. Experten sprechen von einem virtuellen Zaun.
Gesamtkosten für die ersten drei Jahre: rund 1,4 Millionen Euro. Jährlicher Folgeaufwand: mindestens 500.000 Euro, auch wegen der Personalkosten für die Wisentranger. Die Verantwortung für Konflikte, Schäden und Unfälle läge der Studie zufolge dann beim Land NRW. Um Konflikte mit Grundstückseignern zu verringern, sei es ratsam, einen Schadensfonds beizubehalten. „Alle derzeitigen Akteure vor Ort sollten das Krisenmanagement nicht betreiben“, schreiben die Wissenschaftler – sondern eine neutrale Landesbehörde.
Zudem müssten ein „kompetenter Projektpartner“ gefunden und die intensive wissenschaftliche Begleitung gesichert werden. Sollte die Begrenzung der Herde auf 25 Tiere aufgehoben werden, müssten sie weitere Gebiete besiedeln dürfen. Damit würden auch die Kosten steigen. Die Autoren der Studie geben jedoch zu bedenken, dass sich ein intensives Herdenmanagement mit einem Artenschutzprojekt nicht vereinbaren lässt. Sinn eines solches Projektes sei es nämlich, dass eine ausgestorbene Art wieder heimisch werde und sich selbst erhalte.
Alternativ könnte die Freisetzung der Wisente nicht als Artenschutz-, sondern als Tourismusprojekt eingestuft werden. Die Zuständigkeit würde dann ins Wirtschaftsministerium wechseln.
Szenario 4: Die Tötung
Günstigstes Szenario ist die „letale Entnahme“ der Tiere, also das Töten. Es würde lediglich 48.000 Euro kosten – sollte sich das Fleisch vermarkten lassen, sogar nur 28.500 Euro. Alle befragten internationalen Wisent-Experten lehnen das Töten der Tiere jedoch kategorisch ab.
Die Kritik am Trägerverein
Scharfe Kritik üben die Experten in ihrem Gutachten am Trägerverein. Er habe das Projekt von 2016 bis 2018 nach Beendigung der wissenschaftlichen Begleitforschung nur unzureichend betreut. Die erhobenen Daten seien lückenhaft und unsauber dokumentiert. Zudem habe die Wisent-Welt-Wittgenstein den Forschern die Informationsbeschaffung für die Studie erschwert.
Die Wissenschaftler machen keinen Hehl daraus, dass sie den Trägerverein für überfordert halten. Sie fordern, dass ein internationales Expertengremium einen kompletten Managementplan mit folgenden Komponenten erstellen soll: Herdenmanagement, Populationsmanagement (internationaler Austausch von Tieren), Schadenmanagement, Konfliktmanagement, Tourismus und Öffentlichkeitsarbeit.
Auch interessant
„Gerade auch in diesem Zusammenhang wird empfohlen“, einen großen internationalen Projektträger zu finden.“ Der Wisent-Verein wäre dann raus. Der will das Gutachten nicht kommentieren. „Der Wisentverein wird sich nicht zu den Inhalten des Gutachtens äußern, solange die Auftraggeber es nicht öffentlich gemacht haben“, so Sprecher Dr. Michael Emmrich.
Auch Siegen-Wittgensteins Landrat Andreas Müller als Vorsitzender der Koordinierungsgruppe des Wisent-Projektes will sich nicht „zu einzelnen Arbeitsständen“ äußern. Bisher gebe es lediglich einen Entwurf des Gutachtens. Dieser werde zurzeit mit allen Beteiligten und den Autoren abgestimmt.
Am Ende muss die Politik entscheiden und – so die Experten – „die Frage beantworten, welche Prioritäten wir als Gesellschaft aufstellen: Natur- und Artenschutz oder Wirtschaft“.
>> HINTERGRUND: Wisent-Projekt seit dem Jahr 2010
Seit dem Jahr 2010 gibt es das Artenschutzprojekt – zunächst in einem eingezäunten Bereich. 2013 wurden dann acht Tiere ausgewildert. Sie sollen dauerhaft in freier Wildbahn leben – die Herde soll aber nicht größer als 25 Tiere werden. Ein Trägerverein organisiert das Projekt – unterstützt von Fördergeldern.
In der zu Bad Berleburg gehörenden Ortschaft Wingeshausen gibt es die Wisent-Wildnis – ein Schaugehege, das Besucher anlockt. Hier leben die Tiere aber nicht in freier Wildbahn, sondern es handelt sich um eine zweite Herde, die in einem 20 Hektar großen umzäunten Gebiet lebt, das durchwandert werden kann.