Hagen. Lange nicht gesehen: Gesang und Geburtstagsfreude im Biergarten. Wo das möglich ist und wo nicht. Eine Reise durch die Inzidenz-Zonen.
Wenn das Glück eine Stimme bekommt, dann muss es wohl so klingen. Von weithin ist das Getöse an diesem Tisch zu hören. Fünf ältere Damen sitzen da, dazu ein Herr mit einem goldenen Mikrophon in der Hand. Er singt: „Bubi, Bubi, noch einmal, es war so wunderschön“. Die Damen schunkeln dazu, dann lachen sie laut.
Der Himmel ist blau, die Sonne scheint am Mittwochmittag. Ein langes Wochenende steht vor der Tür und die Inzidenzzahlen sinken fast überall. Wie ist sie, die neue Normalität? Ist sie das schon? Fühlt sie sich auch so an? Eine Reise durch die verschiedenen Inzidenzgebiete in Südwestfalen.
Erster gemeinsamer Geburtstag
Es war zuletzt nicht viel so wunderschön, nein, wirklich nicht. Aber das macht diesen Moment nur umso kostbarer. Eine der Damen, Gisela Thimm, hat Geburtstag. 87 Jahre. Sie säße jetzt allein zu Haus, sagt sie, wenn ihre Hagener Tennis-Freundinnen von früher sie nicht überrascht hätten: Ausflug nach Herdecke, Treffen im Café direkt an der Ruhr. Schön sitzen, zusammen sein, das Glück genießen, dass das wieder geht. Der erste Geburtstag sei das, den sie wieder zusammen feiern könnten. „So schön“, sagt Gisela Thimm, „so schön“.
Für dieses Treffen war nicht einmal ein frischer negativer Corona-Test nötig. Der Ennepe-Ruhr-Kreis, zu dem Herdecke gehört, weist seit Tagen einen Inzidenzwert von unter 35 aus. Kontaktbeschränkungen sind längst gelockert, nur für die Innengastronomie bräuchte es noch einen negativen Test.
Ein paar Tische weiter sitzt Tristan (27) aus Lüdenscheid mit seiner Freundin Lea (23) und seinen Eltern, die Hochzeitstag haben. „Wir haben uns so lange nicht gesehen“, sagt Tristan. Endlich, sagt er, könne man sich zu solchen Anlässen wieder zusammensetzen. Noch ein paar Tische weiter genießen Maja und Marvin (beide 23) die Sonne und ein kühles Getränk. Sie haben Urlaub, waren zuletzt auch in Düsseldorf, weil da auch schon wieder viel geht. Mehr als in Hagen, wo die beiden Studierenden leben. Sie stoßen an: Auf die Normalität.
Hagen war lang das Sorgenkind in NRW, jetzt wird auch hier gelockert
Von dort, wo sie sitzen, kann man Hagen sehen. Jenseits der Ruhr aber ist das Leben ein anderes. Die kreisfreie Stadt war in den vergangenen Wochen das Sorgenkind in Nordrhein-Westfalen. Nun sind die Werte immerhin so stabil unter 100, dass auch hier die Außengastronomie ab Fronleichnam öffnen kann: zumindest für alle, die geimpft, getestet, genesen sind.
In der Stadt ist es aber auch am Tag davor schon voll. Die große Bar neben dem ehemaligen Rathaus putzt sich noch heraus. Mehr als 50 Tische stehen unter neun riesigen Sonnenschirmen. An einem von ihnen werkelt ein älterer Mann auf einer Leiter stehend. „Bis morgen hab ich das“, sagt er und lacht. Werbung für die neueste Eiskreation baumelt von dem Sonnenschirm herunter: Schokokalypse. Zwischen Weltuntergang und süßem Genuss. Ein bisschen wie im echten Leben mit dem Coronavirus.
Der ganze Bereich ist mit einer beigefarbenen Kordel abgesperrt, die von Palmen und Olivenbäumen gehalten wird. Auf einem der dazugehörigen Blumenkübel sitzt eine Frau, die sich nach der Sonne ausrichtet und ihr Wasser trinkt. Es ist, als wollte sie den Bereich schon erobern, obwohl es noch nicht geht. Ein älteres Ehepaar geht vorbei. „Draußen aber nur mit gültigem Test“, sagt er zu ihr. Sie nickt. Jede Bank ist besetzt, jede andere Sitzgelegenheit auch. Ein ältere Dame isst ein Eis, eine Frau und ihr Kind im Kinderwagen machen eine Pause. Nur die Maske erinnert an Corona.
Die ,Du kommst aus dem Gefängnis frei’-Karte gezogen
Frank Beckenbach sitzt im Schatten des Biergartens der Kultgastronomie „Spinne“ in Hagen. Berater ist er da und deswegen damit betraut, sich am Mittwoch um alles zu kümmern. Gleich kommt der Leitungsreiniger, um zu säubern, was länger nicht benutzt wurde. Der Koch bereitet Essen vor, die Maschinen werden auf Funktionsfähigkeit geprüft, am Abend die Tische gesäubert.
„Die Lethargie ist vorbei, wir freuen uns“, sagt Beckenbach und bläst den Qualm seiner Zigarre in den Wind. „Wir haben jetzt endlich auch die ,Du kommst aus dem Gefängnis frei’-Karte gezogen.“ Er weiß, dass in Herdecke längst wieder der Bär tobt. In Dortmund war er am Wochenende selbst. „Unfassbar voll“, sagt er. Es sei vielleicht ganz gut, dass für die kommenden Tage nicht das perfekte Sommerwetter angesagt sei: „Dann werden wir hier nicht überrannt, sondern können langsam starten und Routine entwickeln.“
Bang blickt er stets auf den neuen tagesaktuellen Inzidenzwert. „Wenn der wieder steigt“, sagt er und schüttelt den Kopf: „Katastrophe.“ Es ist ja alles wieder gekauft, die Lager voll für die Gäste.
Das Strandbad öffnet wieder im Hochsauerlandkreis
Sehr viel anders geht es den Menschen im Hochsauerlandkreis auch nicht. Der befindet sich zwischen dem Ennepe-Ruhr-Kreis und Hagen – auf Stufe 2 der Inzidenzeskalationsskala. Mittwoch aber wies diese einen Wert aus, der wieder über die 50 gestiegen war. Die für Mittwoch geplanten Lockerungen aber haben Bestand: weniger Kontaktbeschränkungen, keine Testpflicht in der Außengastronomie.
Das Strandbad Sorpesee öffnete am Mittwoch erstmals in diesem Jahr wieder. Noch so ein Stückchen Normalität, auf das die Menschen gewartet haben. Zu den Ersten am See gehören Gabriele Kort-Zindel und ihr Mann Jürgen Zindel. Aus Dortmund sind sie angereist, eine Stunde Fahrt. „Wir haben uns danach gesehnt, so etwas wieder machen zu können. Das ist sehr entspannend“, sagt Kort-Zindel. Geräuschlos gleitet ein junger Mann mit einem Bötchen vorüber.
Zweifel trüben das Glück am Sorpesee
Allerdings: Die beiden mussten sich vorher online anmelden und auch einen negativen Test vorweisen. „Es ist noch nicht wieder Normalität“, sagt Jürgen Zindel. „Es fühlt sich eher wie wie langsame Entspannung an und nicht wie ein lautes Juchu!“ Vielleicht, sagt er, liege das aber auch daran, dass er sich so viel Schönes noch gar nicht traut, in Anspruch zu nehmen, weil es ja auch bald wieder vorbei sein könnte. Wer weiß das schon?
Die Damen, die in Herdecke das Leben genießen, sind fort. Manuela Merten ist noch da. Sie ist Geschäftsführerin des Café Extrablatt in Herdecke. Die Gäste, sagt sie, kämen von überall her aus der Umgebung, vor allem aus Hagen. Das Telefon schellt – wie immer. Kurzes Gespräch. „Nein, wir reservieren nicht“, sagt sie. „Die Menschen“, fügt sie an, nachdem sie auflegt, „sind hungrig nach Normalität.“
>> HINTERGRUND: Wann gelockert wird
- Lockerungen werden möglich, wenn sich ein Kreis- oder Stadtgebiete fünf aufeinanderfolgende Werktage unter einem bestimmten Wert befinden. Dies war im Hochsauerlandkreis jüngst der Fall. Doch am Mittwoch, dem Tag, an dem die Lockerungen griffen, stieg der Wert wieder auf 50,8.
- Das Gesundheitsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen sagt dazu: „Die Zuordnung zu einer höheren Inzidenzstufe erfolgt, wenn der jeweilige Grenzwert an drei aufeinanderfolgenden Kalendertagen überschritten wird, mit Wirkung für den übernächsten Tag.“