Schalke spielt in der 2. Liga: Prüfungen machen Liebe groß oder zerstören sie. Über treue Fans, kulturelle Mythen und den Zauber des Moments.

Denn alle Lust will Ewigkeit. Das geht dem Fußballfan nicht anders als dem Kulturfreund. Beide wissen aber auch: Glück ist ein Zustand, der nicht dauern kann. Daher handeln Liebesromane nicht von Happy Ends, sondern von der Qual des Herzens. Warum muss der Prinz durch die Dornenhecke? Warum wächst oder scheitert Liebe an Prüfungen? Das ist die Frage, aus der Opern entstehen, Nobelpreis-Romane, Hollywood-Tragödien – und jene heilige, mit Psychologie vollgepumpte Beziehung zwischen Fußballfan und Fußballverein. Was die Fan-Liebe mit kulturellen Mythen zu tun hat, erkunden Sportexperte Daniel Berg und Kulturexpertin Monika Willer im Zwiegespräch anlässlich des Abstiegs von Schalke 04 in die zweite Liga.Monika Willer: Zum Beispiel Abaelard. Der schönste Mann des Mittelalters wird von einem erbosten Erziehungsberechtigten entmannt. Gegen dieses Schicksal wirkt sogar die Zweite Liga wie ein Hauptgewinn. Heute verkörpert Abaelard die unvergängliche, die treue Liebe an und für sich. Obwohl ihm das Instrument sozusagen genommen wird, bleibt die Musik. Abaelard und seine Heloise schreiben sich Liebesbriefe, die zu Weltliteratur werden. Ihr Beispiel zeigt: Treue Liebe braucht keine Erfolgsbeweise. Daniel Berg: Fußball ist im Ruhrgebiet nicht einfach Fußball. Schon gar nicht auf Schalke, dem – von der Tradition her – Klub der Malocher, der Bergleute, der Menschen, die wissen, dass das Leben nicht aus gebratenen Tauben und Honigmilch besteht. Vor dem Anpfiff spielen sie das Steigerlied, dann leuchten in der abgedunkelten Arena die Handydisplays wie tausende Grubenlampen. Schalke ist für Schalke-Fans wie eine Religion, ein Teil der Identität, manchmal Lebens-Sinn.

Der Opa mit dem Enkel

Monika Willer: Der Gegensatz zwischen Realität und Mythos ist im Profifußball noch größer als in der Wagner-Oper. Die Realität sieht so aus: Bezahlte Sportler schießen Tore oder auch nicht. In welchem Verein sie die schießen, ist zweitrangig. Im Mythos aber ist schon der Opa mit dem Enkel auf die Halde gegangen, um einem Dutzend fußballbegeisterter Jungs zuzusehen, die nichts hatten, außer ihrem Traum vom Sport in einer dreckigen Stadt. Fußball-Liebe entsteht durch Mythen, lebt von Erlösungssehnsucht und wächst durch Legenden. Das teilt sie mit der Kultur. Doch nicht jeder Fan kann Schicksalsschläge so verwandeln wie Abaelard. Die treue Liebe ist nur eine Spielart zwischen Ekstase und Aggression.


Daniel Berg: Die treue Liebe ist auf Schalke keine Spielart, sie ist nichts, was sich verflüchtigt und wiederkommt. Sie ist immer da, gebiert mal die Ekstase des Erfolgs, mal den Schmerz der Enttäuschung, verbindet beide Welten, verbindet auf diese Weise die Menschen, denen es genauso geht. An einem Tag vor 20 Jahren verschmolz all das zu einem dramaturgischen Höhepunkt, als Königsblau nach fast 50 Jahren wieder Meister zu sein schien – und dem Klub der Triumph in letzter Sekunde noch aus den Händen gerissen wurde. Es sind die stets wiederkehrenden Leiden, die den Erfolg nur noch süßer und kostbarer machen. Schalker sind geeint im Gefühlschaos, das ihnen ihr Klub zuverlässig beschert, ohne das er aber nicht wäre, was er ist: Lieferant von großen Dramen.

Monika Willer: Zum Beispiel Alberich. Der Nibelung aus Richard Wagners „Ring“-Opern ist Patron aller Liebenden, die aus Enttäuschung hassen. Alberich sehnt sich nach Liebe und wird von den Rheintöchtern verspottet. Aus Rache stiehlt er ihnen das Rheingold. Wer die Liebe verflucht, kann aus dem Rheingold einen Ring schmieden, mit dem er die Welt beherrscht. Alberich flucht und schmiedet, und dann wird ihm der Ring der Macht gestohlen. So beginnt eine Ereigniskette, die zum Zusammenbruch der bestehenden Ordnung führt. Wer das Objekt seiner Liebe vernichtet, hat am Ende gar nichts mehr.

Daniel Berg: Kein Spieler, keine noch so dilettierende Mannschaft wird je schaffen, die Liebe der Fans zu ihrem Verein zu ersticken. Denn der Verein ist größer als jeder Einzelne und die Liebe zu ihm war da, bevor es Marketing-Abteilungen gab. Doch was, wenn Vereine nicht mehr die sind, die sie mal waren? Wenn sie aus Liebenden allzu offensichtlich Kunden machen, wenn sie den Mythos der bedingungslosen Liebe überstrapazieren und zu hoch bepreisen? Kein verschossener Elfmeter könnte die Liebe eher kosten.

Lieber Wurzeln als Chichi


Monika Willer: Zum Beispiel Jon Schnee. Der Protagonist aus „Game of Thrones” steht für die tragische Liebe. Seine Romanze mit der Drachenlady Daenerys hat Romeo-und-Julia-Format. Jon Schnee tötet seine Liebste nicht aus Wut, sondern aus Vernunft, damit sie keine Tyrannin wird. Anders als Alberich verhindert er also den Untergang seines Vereins durch persönliche Entsagung. Dafür muss er sich zwischen zwei Lieben entscheiden: Der erotischen Liebe und der Bindung an die Menschen, mit denen er aufgewachsen ist. Jon Schnee wählt seine Wurzeln. Dafür reißt er sich das Herz heraus.

Daniel Berg: Schalke-Fan zu sein, hat mit Ratio nichts gemein. Es ist keine bewusste Entscheidung, denn dann läge die Verlockung des Erfolgs nahe: Dortmund befindet sich inmitten einer erfolgreichen Ära. Doch die Liebe zum Verein existiert von Kindesbeinen an, sie wird nicht hinterfragt, weil sie sich selbst im furchtbarsten Moment tief drinnen in der königsblauen Seele immer noch richtig anfühlt. Niemals käme ein wahrer Schalker auch nur auf die Idee, einem anderen Verein nachzuschauen, schon gar nicht dem BVB (was im Übrigen auch andersherum gilt). Es wäre nicht richtig, es wäre ganz und gar falsch, Betrug an seinem Klub und an sich selbst. Das Hintergehen der großen Liebe. Nein, nein, niemals. Wie heißt es vor dem Altar und noch mehr am Rande der Kreidelinien: In guten wie in schlechten Zeiten.

Treu wie Penelope

Monika Willer: Zum Beispiel Penelope. Die Ehefrau des Odysseus gilt als Urmutter der treuen Liebenden. 20 Jahre lang bleibt ihr Mann verschwunden, keiner weiß, ob er wiederkommt, und sie steht allein da mit dem ganzen Ärger und den Freiern. Man könnte mit dem Gedanken spielen, diese Freier wären in Wahrheit andere Fußballvereine, der FC Bayern München zum Beispiel, so ewig an die erste Liga gefesselt wie Prometheus an den Felsen. Dann wäre die Frage erlaubt, warum Penelope sich nicht von dem Versager Odysseus lossagt?

Daniel Berg: Es gibt sie nicht, die Gewissheiten. Die Aussicht auf Katharsis, den sicheren Lohn für all die Leiden. Nicht für Penelope, nicht für Schalke-Fans. Vielleicht wollen sie sie auch nicht, denn wenn sie Gewissheiten wollten, dann wären sie auf Schalke grundsätzlich falsch. Die bedingungslose Liebe und die Hoffnung darauf, dass ihr Verein ihnen Glück bescheren möge, eint Schalke. Und das Glück eines gewonnenen Spiels schmälert sich kaum durch die Frage, in welcher Liga der Sieg errungen wurde. Was zählt, ist das Jetzt.