Siegen. Ein Sicherheitsdienst riegelt das Studierenden-Wohnheim in Siegen ab. Ortsbesuch dort, wo 260 junge Menschen die Freiheit herbeisehnen.
Maxime Karaskiewicz und die Freiheit sind nicht weit voneinander entfernt. 1,40 Meter ist die Hauswand unter seinem Fenster nur hoch. Und doch ist der Weg nach draußen für den Studenten weit entfernt. Die Sonne scheint. Er hat das Licht an. „Die Wut“, sagt er, „ist der Resignation gewichen.“
Der 23-Jährige sitzt wie 259 weitere junge Menschen in einem Studentenwohnheim in Siegen an der Engsbachstraße fest – seit einer Woche. Zwei Wochen Quarantäne. Rund 30 positive Fälle hatte es in der vergangenen Woche in den beiden Häusern gegeben. Seitdem darf keiner mehr raus und keiner mehr rein. Als es losging fuhr die Polizei mit mindestens einem halben Dutzend Autos vor, riegelte das Areal ab: zwei Häuser mit jeweils sieben Etagen, jede Etage mit zwei Fluren, jeder Flur mit zehn Zimmern. Hinter jeder Tür ein Eingeschlossener. Ein Bauzaun wurde errichtet, der mittlerweile bis auf einen letzten Rest vorn am Eingang wieder abgebaut ist. Er wirkt wie ein Mahnmal.
Isoliert auf 13 Quadratmetern
Das Fenster auf der Rückseite des Studentenwohnheims an der Engsbachstraße 58 ist komplett aufgerissen. Frische Luft lässt Maxime Karaskiewicz gerne in sein Zimmer. Die 13 Quadratmeter, die er bewohnt, hat der 23-jährige Lehramtsstudent in den vergangenen sieben Tagen nur verlassen, um zur Toilette zu gehen oder den Briefkasten zu prüfen. „Eigentlich würde ich bei dem tollen Wetter jetzt viel lieber auf dem Fahrrad sitzen“, sagt er. Darf er aber nicht – so die Anordnung vom Gesundheitsamt des Kreises Siegen-Wittgenstein.
260 junge Menschen sind seit dem 22. April vom Kreis Siegen-Wittgenstein unter Quarantäne gestellt worden. Der Grund dafür waren Infektionen mit der britischen Mutante B.1.1.7 des Coronavirus auf fast allen Etagen der beiden Wohneinheiten. Auf der Etage von Maxime Karaskiewicz gab es keine positiven Befunde, zumindest weiß er davon nichts.
Er weiß nur, dass ein Tag dem anderen gleicht. „Ich mache ein bisschen was für die Uni, zocke am PC und schaue Netflix“, sagt er. Duldungsstarre. Er habe sich mit der Situation abgefunden, ändern könne er sie sowieso nicht. Zu Beginn der Quarantäne gab es jeden Morgen um 9 Uhr ein Video-Briefing durch das Gesundheitsamt, die Asta und die Universität Siegen. „Wir werden regelmäßig informiert, viele stellen Fragen, wie es denn jetzt weiter geht“, sagt Karaskiewicz. Konkrete Antworten gibt es dazu oft nicht, sagt er.
Wann die Quarantäne endet, weiß er demnach noch nicht. „Die Gerüchte sagen, dass wir noch bis zum 8. Mai hier bleiben müssen“, sagt er. Seine Nachbarn aus dem Wohnheim mit der Hausnummer 56 werden am Samstag aus der Quarantäne entlassen, teilt der Kreis auf Nachfrage am Mittwochnachmittag mit. Die Bewohner wissen zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Zumindest nicht Mareike Walkling.
Sie wohnt in Hausnummer 56, siebte Etage. Unten vor ihrem Haus sitzen zwei Sicherheitsleute auf ihren Stühlen. Patrouillen wie zu Beginn der Maßnahme haben sie offenbar eingestellt. Störfälle habe es bisher auch keine gegeben, berichtet die Stadt Siegen. „Ich halte die Maßnahme für richtig“, sagt die 22-Jährige, „auch wenn es natürlich nervig und langweilig ist.“ Am Mittwoch wurde bei ihr im Haus auch noch das Internet zwischen 12 und 16 Uhr abgestellt – Wartungsarbeiten. „Gutes Timing“, lacht sie.
Caterer liefert das Essen für die Studierenden
Walkling ist Etagensprecherin. Sie verteilt – eigens ausgestattet mit Plastikhandschuhen und FFP2-Maske – die Mahlzeiten auf ihrem Flur, das den Studierenden vor den Aufzug gestellt wird. Morgens gibt es eine Tüte für Frühstück und Abendessen: zwei, drei Brötchen, drei, vier Scheiben Brot, dazu heute Käse, einen Apfel, einen Müsliriegel und einen Joghurt. „Ich hatte Kirsche, mein Nachbar Heidelbeere.“ Sie lacht wieder, vermutlich weil sie ahnt, wie absurd ein Tag sein muss, an dem das eine relevante Information zu sein scheint.
Mittags liefert ein Caterer auf Kosten der Stadt das Essen, das die Bewohner auf einem Onlineportal auswählen zwischen: vegetarisch und nicht-vegetarisch. Etagenweise werden zudem Einkaufslisten geführt. Wer Küchenrolle, Seife, Shampoo, Zahnpasta oder Kaffee braucht, dem bringen dies freiwillige Helfer. Oder der Kommilitone, der nach überstandener Erkrankung immun ist und das Haus verlassen darf, wann immer er will. „Der Glückliche“, sagt Walkling. Die Infizierten hat die Stadt in Hotelzimmern isoliert.
Walkling verabredet sich viel online mit Freunden: Spieleabend, einfach quatschen, sich ablenken von dem ganzen Mist. Sie verweist auf die, denen es vermutlich schlechter geht als ihr, die vielen internationalen Kommilitonen, die aus Indien kommen, aus Ghana, aus Pakistan, ihre Familien schon lange nicht gesehen haben und nun auch noch festsitzen.
Anmeldung für Küchennutzung
Für ihre Etage hat sie eine Whats-App-Gruppe gegründet: Wenn jemand Gemeinschaftsküche, -dusche oder -toilette auf dem Flur benutzen will, schickt er oder sie vorher eine Nachricht. Kontaktvermeidung auf engem Raum. Auf anderen Fluren, sagt sie, habe es schon Beschwerden gegeben, weil sich da trotzdem Bewohner in der Küche treffen. „Da wissen die anderen Mitbewohner auch nicht, wie sie reagieren sollen. Das frustriert einen noch mehr, wenn sich Einzelne nicht an die Regeln halten, weil dann alle darunter leiden müssen.“ Es ist im Kleinen wie im Großen.