Gevelsberg. Steuerberater sind in der Pandemie als Fachleute für Corona-Hilfen sehr gefragt. Allerdings auch als Seelentröster für Gewerbetreibende.
Steuerberater sind in Pandemie-Zeiten unerwartet zu den Seelentröstern der Nation geworden. „Wir sind nicht nur als Fachleute gefragt, sondern oftmals auch als Psychologe und Coach“, sagt Axel Bahr, Steuerberater aus Gevelsberg.
Für die Beantragung von Corona-Hilfen kommen Unternehmer und Selbstständige zu ihm und laden teils große Rucksäcke mit Existenzängsten ab. „Es ist herausfordernd, mit den Schicksalen vieler Gewerbetreibenden konfrontiert zu werden“, sagt Bahr.
Gastronom befüllt jetzt Regale im Supermarkt
Erst kürzlich berichtete ein Gastronom, dass er jetzt Regale im Supermarkt befüllt. „Er will nicht Hartz IV beantragen, sagt er. Er könne nicht die 80 Seiten Formulare ausfüllen und habe einfach nicht die Nerven dazu.“
In der Corona-Krise können sich viele Steuerberater vor Aufträgen kaum retten. „Die Flut an Zusatzaufgaben“, klagt Harald Elster, Präsident des Deutschen Steuerberaterverbandes, „bringt Kanzleien an die äußerste Belastungsgrenze.“
Bereits vor Jahren auf Digitalisierung umgestellt
Soweit sei man an seinen Standorten in Gevelsberg und Sprockhövel noch nicht, beruhigt Axel Bahr. Aber: Man habe gut zu tun. „Es zahlt sich aus, dass wir gut organisiert sind, auf Digitalisierung umgestellt und dadurch keine Akten mehr haben. Das ist in unserer Branche – vorsichtig formuliert – nicht überall verbreitet.“
Die Einarbeitung in die Materie der Corona-Hilfen hat viel Zeit gefressen, schildert Bahr. Seine Kanzlei habe eine Task-Force eingerichtet, die Mitarbeiter brächten sich mit Hilfe von Seminaren und Studium von Fachliteratur auf den aktuellen Stand.
Regelungen ändern sich fast täglich
Die Arbeit werde dadurch erschwert, klagt Bahr, dass die Regelungen sich fast täglich änderten: „Vieles wurde mit der heißen Nadel gestrickt. Die Äußerungen der Politiker in den Tagesthemen oder bei Anne Will waren oft viel schneller, als sie von den Menschen in den Verwaltungen hätten umgesetzt werden können.“
So habe der Staat in Kauf genommen, dass es bei Programmen, Betriebssystemen, Software usw. immer wieder Probleme gab. „Ich verstehe nicht“, sagt er, „warum die Finanzämter nicht mit der Abwicklung der Hilfen betraut wurden. Sie haben die Daten, Steuer-IDs und Bankverbindungen von Unternehmen und Selbstständigen.“ Und wären die Finanzämter involviert gewesen, ist er sich sicher, hätten es Betrüger nicht so einfach gehabt.
Große Herausforderung für die Verwaltungen
Die Politik hatte zu Beginn der Pandemie schnelle und unbürokratische Hilfen versprochen. Bei der ersten Überbrückungshilfe im März 2020 sei die Bearbeitung der Anträge und die Auszahlung des Geldes überwiegend schnell abgelaufen, lobt Bahr: „Die November-/Dezember-Hilfen dagegen sind eine Katastrophe.“
Viele hätten erst im Februar ihr Geld gesehen: „Es lief alles sehr schleppend, weil sich wegen unklarer Regelungen immer wieder Schlupflöcher auftaten, die nachgebessert werden mussten. Für die Verantwortlichen in den Verwaltungen eine riesige Herausforderung.“
“Keine Gelddruckmaschine für uns“
Dass Steuerberatern zuletzt pauschal unterstellt wurde, sich in der Corona-Krise die Taschen voll zu machen, kann Bahr nicht verstehen. „Ja, wir bekommen die Aufträge gut bezahlt. Im Übrigen nach der Steuerberater-Vergütungsverordnung.“
Der Gebührenrahmen erstrecke sich von 30 bis 75 Euro je angefangene halbe Stunde, abhängig von der Schwierigkeit, Bedeutung und der Frage, ob ein Steuerberater oder ein Mitarbeiter beteiligt war.
Lange Vorbereitung auf Beratungsstunden notwendig
Bahr: „Man kann wahrlich nicht davon reden, dass die Pandemie für uns eine Gelddruckmaschine ist. Durch die vielen Bestimmungen bei den Corona-Hilfen benötigt man für eine ausgewogene Beratungsstunde eine dreistündige Vorbereitung. Hinzu kommen Online-Schulungen und Studium von Fachliteratur an Wochenenden.“
Fragt man Bahr nach der Stimmungslage bei seinen Mandanten, antwortet er mit einem „geteilt“. Industriebetriebe und Handwerker klagten höchstens über Probleme bei der Materialbeschaffung.
Gastronomie: Eine in der Pandemie vergessene Branche
„Dramatisch sieht es im Einzelhandel und in der Gastronomie aus. Letztere ist eine in der Pandemie vergessene Branche.“ Der Außer-Haus-Verkauf ist hier ein kleines Zubrot, um die Kunden bei Laune zu halten.
„Es hat auch damit zu tun“, so Bahr, „dass Gastronomen ihre Küchenmitarbeiter bei der Stange halten wollen. Sie fürchten, dass bei einer Wiedereröffnung sonst einige von ihnen nicht mehr zurückkehren, weil in der Phase der Untätigkeit ihr sozialer Lebensrhythmus aus den Fugen geraten ist.“
Emotionen aus den Beratungsgesprächen herauslassen
Axel Bahr, Mitte 50 und seit 1996 Steuerberater, weiß um seine Rolle als Seelentröster. Und doch: „Wir müssen versuchen, aus den Beratungsgesprächen Emotionen herauszulassen.“ Es gelte, Situationen realistisch einzuschätzen: „Im Zweifel müssen wir sagen: ,Deinem Betrieb ging es schon vor der Pandemie schlecht. Er wird sie nicht überstehen‘.
Hintergrund
Seit Jahren herrscht in der Branche der Steuerberater ein Fachkräftemangel. Einer Studie des Analyse-Instituts SWI Finance zufolge, sehen 85 Prozent der Berater in der Rekrutierung geeigneter Mitarbeiter die größte Herausforderung für sich.
„Steuerfachangestellte“ können sich quasi ihre Kanzlei aussuchen“, sagt Steuerberater Axel Bahr.