Siegen. Ein Intensivmediziner aus Siegen warnt vor den Auswirkungen der dritten Corona-Welle auf nicht vom Virus infizierte Patienten.

Die dritte Corona-Welle türmt sich weiter auf. Steigt die Zahl der Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen, dann leiden auch andere Patienten darunter, sagt Dr. Henning Lemm, Intensivmediziner am Siegener St. Marien-Krankenhaus. Die Entscheidung, wer eine lebensrettende Behandlung erhält oder nicht (Triage), finde bereits täglich statt, „auch bei nicht-infektiösen Patienten“, berichtet der 42-jährige Oberarzt.

Oberarzt Dr Henning Lemm Intensivmediziner St Marienkrankenhaus Siegen
Oberarzt Dr Henning Lemm Intensivmediziner St Marienkrankenhaus Siegen © Henning Lemm | Henning Lemm

Herr Dr. Lemm, mit welchem Blick schauen Sie morgens auf die Zahlen des RKI?

Henning Lemm Es gehört zur Frühstückslektüre. Spätestens wenn ich in der Klinik bin, weiß ich, dass es einen Zusammenhang zwischen den steigenden Inzidenzwerten und der steigenden Auslastung auf den Intensivstationen gibt. In den letzten Tagen wächst die Sorge, dass die Möglichkeiten, die Patienten so zu versorgen, wie es eigentlich sein sollte, weiter schwinden.

Wie sieht die Situation im St. Marien-Krankenhaus in Siegen aus?

19 Betten haben wir auf unserer normalen Intensivstation. Wir können allerdings mit unserem Personal nur 10 bis 13 Patienten dort behandeln. Die Auslastung beträgt zurzeit 90 Prozent. Über Ostern waren wir zu 100 Prozent belegt. In unserem Intensivbereich für Covid-19-Patienten gibt es acht Betten, durch den Personalmangel können wir nur sechs Patienten behandeln. In den letzten vier Wochen war die Covid-19-Intensivstation nahezu voll ausgelastet.

Die dramatischen Warnungen vor den Auswirkungen der dritten Welle auf die Intensivstationen sind somit angebracht?

Durchaus. Ich habe den Eindruck, dass in der Öffentlichkeit nur die Versorgung der Covid-19-Patienten wahrgenommen wird. Dabei schieben wir seit der ersten Corona-Welle einen Patienten-Berg vor uns her, die sich aus Angst vor Ansteckung nicht bei Medizinern gemeldet haben bzw. deren Operationstermine immer wieder verschoben wurden. Umso mehr Covid-19-Patienten in Kliniken behandelt werden müssen, umso weniger Personal und Zeit allgemein bleibt uns, um uns um die normalen Patienten zu kümmern. Das scheint angesichts der aufkommenden Forderungen nach weiteren Lockerungen vielen Bürgern nicht bewusst zu sein.

Sind Sie wütend über die zum Teil widersprüchlichen Entscheidungen von Politikern?

‚Wütend‘ ist das falsche Wort. Ich bin enttäuscht, dass die Notbremse für die Lockerungen im Lockdown nicht gezogen worden ist. Ich setze nicht nur auf rein technokratische Regelungen im Kampf gegen die Pandemie, aber wenn Empfehlungen der Experten des RKI nur halbherzig umgesetzt und erst bei steigendem Druck angepasst werden, dann fehlt mir das Verständnis dafür. Es gibt keinen Interpretationsspielraum. Das Virus lässt nicht mit sich verhandeln. Nachdem die Virologen mit ihren Vorhersagen bei der ersten und zweiten Corona-Welle recht behalten haben, habe ich erwartet, dass man ihnen bei der dritten folgt. Ein harter Lockdown ist das Gebot der Stunde.

Wird Triage auf den Intensivstationen der Kliniken in Deutschland schon angewandt?

De facto triagieren wir bereits täglich. Nicht bei Covid-19-Patienten, sondern bei regulären Patienten. Täglich kommen akute Fälle hinzu. Patienten mit Herzinfarkten zum Beispiel. Jeden Tag stehen schwierige Operationen an. Und ständig müssen wir uns die Frage stellen, wer schon stabil genug für die Normalstation ist bzw. welche Operation verschoben werden könnte. Schon vor der Pandemie hatten wir einen Pflegenotstand durch Personalmangel in den Kliniken. Daraus folgt: Jeder frische Covid-19-Fall mindert unsere Behandlungskapazitäten für nicht-infektiöse Kranke.

Fast ein Drittel der Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen stirbt. Wie wirkt sich das auf Sie und Ihre Kollegen aus?

Der Sterbeanteil liegt wesentlich höher. Etwa die Hälfte der Covid-19-Patienten, die auf die Intensivstationen gelangen, überleben die Folgen der Infektion nicht. Bei Patienten, die beatmet werden, liegt die Sterberate eher bei 75 Prozent. Als Intensivmediziner müssen wir uns jeden Tag mit dem Tod beschäftigen. Für mich persönlich ist es etwas Positives bzw. hat es etwas Tröstliches, wenn ich weiß, dass der Patient ohne Angst, Atemnot und Schmerzen stirbt und wir das gewährleisten konnten.

Mehr als ein Jahr Pandemie, drei Corona-Wellen – hat sich die Behandlung von Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen seither verbessert?

All die neu entwickelten Medikamente haben sich bisher nicht als so zielführend erwiesen, wie es uns versprochen worden ist. Wir haben gelernt, dass die Chancen, die Folgen der Infektion zu überleben, bei einer frühen Verschlechterung des Gesundheitszustands rapide sinken. Bei einer abnehmenden Atmungskapazität fangen wir eher als noch vor Monaten mit dem Intubieren an.

Welche Lehren sollten aus den Erfahrungen der Pandemie gezogen werden?

Wir müssen die Transparenz, was auf Intensivstationen geschieht, erhöhen. Das würde selbst Corona-Skeptikern die Augen öffnen. Was unsere Arbeit schon vor Pandemie-Zeiten enorm erschwert hat, waren fehlende Patientenverfügungen und Vollmachten. Menschen sollten sich frühzeitig Gedanken machen, was geschehen soll, wenn sie selbst nicht mehr in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen. Diese Vorsorge erleichtert allen Beteiligten den Umgang untereinander in schwierigen Zeiten und es vermeidet Schuldzuweisungen gegenüber Angehörigen und Medizinern.