Essen/Hagen. Hagen und Essen erinnern an den Mann, der das Ruhrgebiet erfand, das Museum Folkwang gründete und das Bauhaus vorbereitete: Karl Ernst Osthaus
Wieso stellen zwei Ruhrgebietsmuseen, die knapp 60 Kilometer voneinander entfernt liegen, einen identischen Brunnen aus? Diese Frage führt direkt zu Karl Ernst Osthaus, einem der einflussreichsten Kulturreformer des 20. Jahrhunderts. Bereits zur Jahrhundertwende hat der Hagener Museumsgründer und Sammler Lösungen für sozialreformerische und ästhetische Fragen vorgestellt, die heute noch virulent sind: Kunst und Kultur, Architektur und Stadtplanung sollen die Lebensrealität positiv verändern.
Vater des Ruhrgebiets
Osthaus gilt als Vater des Ruhrgebiets und entscheidender Bauhaus-Vordenker, seinetwegen pilgern August Macke, Henri Matisse, Emil Nolde, Else Lasker-Schüler und viele weitere prägende Künstler nach Hagen; er holt Architekten wie Henry van de Velde, Peter Behrens, Richard Riemerschmid und Jan Mathieu Lauweriks in die Region. Und er gründet 1902 in Hagen das Museum Folkwang, das, seit 1922 in Essen beheimatet, immer noch als das schönste Museum der Welt gilt.
Am 27. März gedenkt die Kunstwelt des 100. Todestages dieses außergewöhnlichen Mannes, der so viele Entwicklungen jenseits der engen Kunstbegriffe angeregt hat. Doch wie erinnert man an einen Visionär? Dr. Birgit Schulte, Kustodin des Hagener Osthaus-Museums, gilt als Osthaus-Expertin, sie hat zahlreiche Publikationen veröffentlicht, zuletzt mit Reinhold Happel den umfangreichen Briefwechsel zwischen Osthaus und Walter Gropius. Zum 100. Todestag begibt sich die Kunsthistorikerin auf eine Spurensuche zum Herzstück dessen, was Osthaus ausmacht: der Sammlung.
Berühmter Brunnen von Georg Minne
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Die Expedition führt in die große Halle des Osthaus-Museums. Dort, in dem spektakulären Interieur von Henry van de Velde, steht der berühmte Brunnen mit den fünf knienden Knaben, der 1906 das Raumkonzept von Osthaus und van de Velde vollständig macht. Die Halle soll ein Gesamtkunstwerk werden. Der Brunnen ist ein Symbol, denn Osthaus sieht das Folkwang als „Jungbrunnen deutscher Kultur“. Der originale Marmorbrunnen befindet sich in Essen. Im Osthaus steht eine Replik.
In der Halle hat Birgit Schulte die Ausstellung „Folkwang-Reflexe“ vorbereitet, die eröffnet wird, sobald es die Coronalage zulässt. Darin wird das Schicksal einiger ausgewählter Stücke zwischen Hagen und Essen exemplarisch beleuchtet. „Tatsächlich lassen sich in unserer heutigen Sammlung noch Werke finden, die in der ursprünglichen Folkwang-Sammlung waren oder sich im Familienbesitz befanden und wieder zu uns zurückgekommen sind“, so Birgit Schulte.
Drei Millionen Goldmark
Von seinen Großeltern, den Hagener Schraubenfabrikanten Funcke, erbt der Bankierssohn das ungeheure Vermögen von drei Millionen Goldmark. Damit kann er seine Vision von einem Weltkunstmuseum verwirklichen. Osthaus‘ Spazierstock in der Vitrine verrät viel über den Privatmann. Er ist ausgesprochen sparsam. Er hält sich weder ein Automobil noch Pferde, sondern geht täglich zu Fuß von seiner Wohnung im Hohenhof zum Museum oder nimmt die Straßenbahn.
Ein Fundstück der Spurensuche ist das große Wandbild von Emil Rudolf Weiss mit einer Jugendstil-Allegorie der Lebenszeitalter. Osthaus erwirbt es 1904 für die Tür zum Folkwang-Musiksalon. „Es war in einem erbärmlichen Zustand, als wir es wieder entdeckt haben“, schildert Birgit Schulte. Derzeit hängt es in der großen Halle und korrespondiert mit dem Minne-Brunnen.
„Wir waren ganz jeck“, so beschreibt August Macke seine Aufregung beim Besuch des weltweit ersten Museums für moderne Kunst in Hagen. Für die Nazis wird das Museum Folkwang zum Kristallisationspunkt der verhassten „entarteten Kunst“, sie plündern die Sammlung, zerstören und verkaufen die Werke.
Nazis plündern die Sammlung
Deshalb haben viele Exponate der „Folkwang-Reflexe“ eine interessante Geschichte. Zwei Bilder von Christian Rohlfs, der von 1901 bis zu seinem Tod 1938 im Museumsgebäude lebt und arbeitet, sind zu sehen, die 1922 nach Essen gehen und 1937 bei der Aktion „entartete Kunst“ beschlagnahmt werden. Über den Kunsthandel haben sie den Weg zurück nach Hagen gefunden. Aus Familienbesitz hingegen stammt das Stickbild „Der Reibekuchenkönig“ von 1909, das Else Lasker-Schüler wohl die Anregung zu ihrem Gedicht liefert: „Kaiser Karl zu Aachen saß / am liebsten auf dem Throne / Wenn er Le Reibekuchen aß / mit starker Kaffeebohne.“
„Jephtas Tochter“ hat ebenfalls ein Schicksal. 1920 kauft Karl Ernst Osthaus die Plastik einer lebensgroßen Tanzenden von der Bildhauerin Milly Steger, die er als Stadtbildhauerin nach Hagen holt. Die grazile Figur zählt zu den schönsten und ausdrucksvollsten Arbeiten Milly Stegers und gilt als ein Hauptwerk in der Plastik der klassischen Moderne. Die erste Version der Figur gelangt nach Essen und wird 1944 im Krieg zerstört. Milly Steger hat 1920 noch einen Bronzeguss anfertigen lassen, den ein Kasseler Bankier kauft. 2004 kann das Osthaus-Museum die Tanzende mit Unterstützung der Bürger erwerben.
Baudenkmäler von internationalem Rang
In Hagen können Kunstfreunde heute noch erkunden, wie eine Stadt zum Architektur-Labor für die Moderne wird. Der Hohenhof, das Krematorium Delstern, die Siedlung am Stirnband, die Glasmalerei am Hauptbahnhof gelten als Baudenkmäler von internationalem Rang. Nach Osthaus ist eine eigene Kunstrichtung benannt, der Hagener Impuls. Osthaus ist der Überzeugung, dass Kultur Fortschritt und Wandel in reale Lebensverhältnisse bringen kann. Diese Vision ist zum Motor für die Kulturhauptstadt-Bewerbung des Ruhrgebiets 2010 geworden. Sein wichtigstes Vermächtnis ist jedoch Impuls, dass die Kunst das Museum verlässt und in den Alltag einzieht.
Birgit Schulte hat zum 100. Todestag die 236 Kondolenzbriefe untersucht und transkribiert. Sie lesen sich wie ein Wer ist Wer der Kunstwelt, selbst der damalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer schreibt Beileidsworte.
Der Jahrestag wird wegen der Coronapandemie still gefeiert. Das geplante Familientreffen mit allen Osthaus-Urenkeln in Hagen wurde abgesagt. Am Grabmal in Hagen lassen heute der Hagener und der Essener Oberbürgermeister gemeinsam einen Kranz niederlegen. Ein Video finden Sie unter: osthaus100