Hagen/Freudenberg. Zirkussen steht in der Pandemie das Wasser bis zum Hals. Und doch lassen sich Familienbetriebe nicht unterkriegen und hoffen auf einen Neustart.

Tatjana Tränkler wurde vor 52 Jahren im Sauerland geboren. „In einem Wohnwagen“, sagt sie, „ich bin ein richtiges Zirkuskind.“ Der Circus Verona gastierte damals in Hemer-Deilinghofen.

Ein halbes Jahrhundert später leitet Tatjana Tränkler den Zirkus („in der 7. Generation“), der Jung und Alt in der Manege ein Strahlen ins Gesicht zaubert. Doch seit einem Jahr ist Corona-Stillstand. Den Tränklers steht die Existenzangst ins Gesicht geschrieben.

Laufende Kosten gehen weiter

Keine Vorstellungen, Tierdressuren, Artistik- und Jonglage-Nummern oder Clownerien bedeuten keine Einnahmen. Und die laufenden Kosten für Tierfutter, Reparaturarbeiten, Versicherungen usw. gehen weiter. Seit September stehen die Zirkuswagen im unfreiwilligen Winterlager in Hagen-Bathey.

Zirkuszelt stark beschädigt

Zu allem Überfluss hat vor zehn Tagen der Eisregen das Zirkuszelt schwer beschädigt. Ein Zelt ist die Existenzgrundlage eines Zirkus. Die drohende Investition in ein gebrauchtes oder neues Zelt kommt zur Unzeit. „Das zieht einem den Boden unter den Füßen weg“, sagt Tatjana Tränkler.

Und doch: Auch wenn der zehnköpfigen Zirkusfamilie das Wasser bis zum Hals steht, hat sie ihre Zuversicht nicht verloren. „Wir hoffen, wir kämpfen, wir werden alles Menschenmögliche tun, damit unser Zirkus überlebt.“

Seit 250 Jahren gehört der Zirkus zum kulturellen Leben in Deutschland

Seit 250 Jahren ist der Zirkus ein fester Bestandteil im kulturellen Leben in Deutschland. Ein Kulturgut, auch wenn es offiziell als solches nicht eingestuft ist. „An welchem Ort sonst können Sie ihrer Fantasie derart freien Lauf lassen, können mit staunenden Augen träumen?“, fragt Tatjana Tränkler, wohlwissend, dass sich viele Betriebe in akuter Existenznot befinden.

Wenn schon der große Circus Roncalli ums Überleben kämpft (Gründer Bernhard Paul: „Ich fliege einen voll besetzten Jumbo-Jet und weiß nicht, wie viel Treibstoff noch im Tank ist“), wie soll es erst bei kleinen Familienzirkussen aussehen? Tatjana Tränkler: „Wenn es keine Zirkusse mehr gibt, würde die Landschaft der besonderen Orte kleiner. Es ist ein Unterschied, ob Kinder mit Zirkusluft groß werden oder mit Handy und Laptop.“

Auf Spenden aus der Bevölkerung angewiesen

Sie sagt: „Wir müssen irgendwie die Zeit bis zum Neustart nach dem Lockdown überbrücken“, und bedankt sich bei allen Geld- und Sachspendern, die ihr Herz für den kleinen Circus Verona zeigen. Auch in nächster Zeit ist er dringend auf Unterstützung angewiesen. „Trotz der eisigen Kälte haben wir die Heizungen in den Wohnwagen heruntergedreht, um Kosten zu sparen.“

Gleiches gilt knapp 80 Kilometer entfernt, in Freudenberg, wo der Zirkus Trumpf seit einem Jahr ohne Einnahmen festsitzt. Silwana Trumpf ist Seiltänzerin, keine Traumtänzerin, die die Lage schönredet: „Es geht ans Eingemachte.“

Nicht die erste schwierige Situation für einen kleinen Zirkus

Dennoch handelt jeder dritte Satz von ihr von Hoffnung, vom Kampf gegen die Krise, vom großen Zusammenhalt in den drei Familien und von schwierigen Situationen, die kleine Zirkusse immer mal wieder durchstehen müssen.

Silwana Trumpf (32) ist mit Tieren im Zirkus aufgewachsen. In den Vorstellungen des Circus Trumpf ist sie üblicherweise als Seiltänzerin zu sehen.
Silwana Trumpf (32) ist mit Tieren im Zirkus aufgewachsen. In den Vorstellungen des Circus Trumpf ist sie üblicherweise als Seiltänzerin zu sehen. © Leandra Stampoulis

Auch die Trumpfs sind auf Spenden aus der Bevölkerung angewiesen, haben die Bibber-Kälte zuletzt schmerzlich gespürt. „Wir mussten am Heizmaterial sparen, damit es ausreicht“, sagt Silwana Trumpf. Am Futter für die 20 Tiere zu knapsen, ist ein No-Go in der Zirkuswelt.

Das bestätigt Ralf Huppertz vom Verband deutscher Circusunternehmen: „Tiere stehen für Familienzirkusse an höchster Stelle. Die essen eher drei Tage nur Nudeln, bevor auch nur ein Tier hungert.“

Der Unternehmer aus Mecklenburg-Vorpommern ist derzeit als Kämpfer der Zirkusse gegen die Bürokratie im Einsatz, wie er sagt. Er hört den Amtsschimmel wiehern, wenn Jobcenter versuchen, Artisten oder Dompteure, die Arbeitslosengeld II (Hartz IV) vom Staat erhalten, einen Übergangs-Job bei branchen-fremden Firmen zu vermitteln. „Die verstehen nicht, dass die Arbeit für Zirkusleute weiter geht, auch wenn keine Vorstellungen laufen.“

Der tägliche Ablauf bleibt auch ohne Vorstellung

Es bleiben Tierpflege und -dressur, Reinigungs- und Reparaturarbeiten und das Training an Seil oder Trapez. Huppertz: „Der tägliche Ablauf bleibt derselbe. Der Zirkus muss darauf vorbereitet sein, dass es am nächsten Tag wieder los geht.“

Huppertz ist optimistisch, dass die kleinen Familienzirkusse in der Krise mit einem blauen Auge davonkommen. „Sie haben schon öfters Not-Lagen erlebt. Sie lassen sich nicht unterkriegen und bekommen immer noch irgendwelche Hilfe aus der Bevölkerung.“

Mit Leib und Seele Zirkusmensch

Der Verbandschef sorgt sich insbesondere um die mittleren und größeren Unternehmen in der Branche, denen derzeit jegliche Planungssicherheit fehle. „Eine GmbH mit offiziellen Angestellten funktioniert eben nicht wie ein Familienunternehmen. Irgendwann ist die Abbezahlung von Raten und Rechnungen bei laufenden Kosten nicht mehr machbar.“

Der Zirkus Trumpf, der seine Zwangspause in Freudenberg verbringt, besteht in der siebten Generation. Ein traditionsreiches Familienunternehmen. „Wir hängen daran, sind mit Leib und Seele dabei“, sagt Silwana Trumpf (32), Tochter der heutigen Chefin. Es gebe nach wie vor eine Sehnsucht bei den Menschen nach der Manege. „Sowas darf doch nicht aussterben.“

Krise ist ein Drahtseilakt

Also trainiert die Seiltänzerin weiter fleißig („sonst rostet man fest“) und hält die Hoffnung hoch. Sie weiß, dass die Corona-Pandemie für einen Zirkus ein Drahtseilakt ist. Aber dass mit unbändigem Willen unglaubliche Kunststücke möglich sind.

Zirkus-Hotline: 0151 25891365 (Trumpf), 0177 5073159 (Verona)

Zirkusforscherin: „Menschen brauchen das unmittelbare Erleben“

Franziska Trapp forscht an der Universität Münster und an der Universität Brüssel zum Zeitgenössischen Zirkus. Als Organisatorin internationaler Konferenzen gilt sie als treibende Kraft der deutschen Zirkusforschung.

Sollten traditionelle Zirkusse die Corona-Pandemie nicht überstehen, so sagt die Wissenschaftlerin, „geht die Diversität dieser spannenden Kunstform verloren­. Das wäre gravierend“.

Dabei bräuchten Jung und Alt nach der Pandemie, so die Auffassung von Fran- ziska­ Trapp, mehr denn je dieses­ „unmittelbare Erleben­“ im traditionellen wie im zeitgenössischen Zirkus: „Das kann eine Videokonferenz mit wenig Unvorhergesehenem und Überraschendem nicht bieten.“

Seit seinem Beginn vor 250 Jahren­ habe sich das Kulturgut Zirkus­ stark verändert, sagt Fran- ziska­ Trapp. „Der Zirkus war immer analog zu den technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen einem kontinuierlichen Wandel unterlegen.“ Und: „Er wird sich auch nach der Pandemie weiterentwickeln.“