Erndtebrück. Sibirien in Wittgenstein: Nur ein dünnes Zelt trennt unseren Reporter vor der extremen Kälte im Benfetal. Ein Selbstversuch, der Grenzen sprengt.

Augen auf. War da was? Es ist finster, nichts zu sehen. Im Hintergrund plätschert Wasser. Es dauert ein paar Momente, bis ich realisiere, wo ich gerade bin. Das Wasser, das ich höre, ist die Benfe. Der kleine Fluss, der sich durch das Tal zieht, in dem ich mich befinde. Das Höhental auf 657 Metern, das unter Meteorologen als der kälteste Punkt in Nordrhein-Westfalen gilt. Die Arktis im Wittgensteiner Land.

Eigentlich mag ich die Wärme deutlich lieber. Strand, Meer und Sonne. Aber die Idee, mich der Herausforderung Kälte zu stellen, reizt mich. Gerade jetzt, wo es so besonders kalt ist, so kalt wie schon lange nicht mehr. Ich melde mich freiwillig, finde Experten und hole die notwendigen Genehmigungen beim Kreis Siegen-Wittgenstein ein. Schließlich möchte ich in einem Zelt mitten in einem Naturschutzgebiet schlafen – und Wildcamping ist in Deutschland verboten. Die untere Naturschutzbehörde gibt grünes Licht, jetzt gibt es keine Ausreden mehr. Selbstversuch extrem – jetzt wird es ernst.

Warum? Die Erfahrung lockt, das Polargebiet meiner Heimat zu sehen und dort an meine Grenzen zu gehen. Eine Mischung aus Übermut und Abenteuerlust treibt mich zu diesem Wahnsinn.

Kein Verlass auf die Technik

Mitten in der Nacht bemerke ich die Kälte um mich herum. Ich versuche die Augen wieder zu schließen, mich in meinem Schlafsack zu drehen. Es sind wahrscheinlich noch ein paar Stunden, die ich in der klirrenden Kälte in meinem Zelt ausharren muss.

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Wie spät es genau ist, ist nicht auszumachen. Das Handy hat aufgegeben, es ist schlichtweg zu kalt für den Akku. Tolle Technik, im Extremfall verlässt sie dich. Für einen kurzen Moment überkommt mich die Sorge: Wie soll ich nun jemanden im Fall der Fälle erreichen? Ich weiß es nicht. Die Müdigkeit siegt wenige Augenblicke später.

Das Handmessgerät mit der gemessenen Bodentemperatur von -24,5 Grad um 6.30 Uhr.
Das Handmessgerät mit der gemessenen Bodentemperatur von -24,5 Grad um 6.30 Uhr. © Westfalenpost | Carsten Beyer

Eine gefühlte Minute später reiße ich wieder die Augen auf. „Minus 18 Grad und die liegen hier im Zelt“, ruft eine Stimme. Es ist die Stimme von Carsten Beyer, dem Hobby-Meteorologen aus dem Siegerland. Sie ist nah, nicht weit von meinem Kopf, der nur durch ein paar Kunststoffschichten vom eiskalten Schnee getrennt ist. Wenige Augenblicke später ertönt die Stimme wieder: Die Temperatur sinkt. Es sind -24,5 Grad, um genau zu sein. Sibirien im Wittgensteiner Land.

Unterwegs mit Experten

Beyer hatte das Tal in Benfe vor einigen Jahren als kältesten Punkt in NRW ausgemacht. Er ist gekommen, um exakte Auskunft zu den Temperaturen im Tal zu geben.

Eine andere Stimme erklingt. „Guten Morgen“, ruft Matthias Mimberg, der ein Zelt von mir entfernt liegt. Gemeinsam mit Jonathan Mende begleitet mich Mimberg bei meiner Nacht in der Kälte. Beide sind Mitglieder im Deutschen Alpenverein, Sektion Siegerland, und kennen sich mit solchen Extremsituationen bestens aus. Mende übernachtete bei Minusgraden in einer Höhle, Mimberg ist Hochtourenführer. Sie sind Fachleute auf ihrem Gebiet. Meine Sorgen vor der arktischen Nacht werden weniger. Die beiden wissen, was sie tun.

Reporter Fabian Vogel (rechts) und die beiden Experten Matthias Mimberg (links) und Jonathan Mende (mitte) vor ihrem Camp im Benfetal.
Reporter Fabian Vogel (rechts) und die beiden Experten Matthias Mimberg (links) und Jonathan Mende (mitte) vor ihrem Camp im Benfetal. © Westfalenpost | Sophie Manche

Eine besondere Nacht in besonderen Zeiten. Normalerweise würden wir uns zu dritt in ein Zelt legen. Drei Personen unter einem Dach würden es wärmer für alle machen. Doch das ist nicht möglich.

Schwitzen verboten

Als wir uns am Abend vorher treffen, bin ich noch gut gestimmt. Eine Nacht am kältesten Ort in NRW im Zelt verbringen. Was soll schon groß passieren? Ihre Hinweise nehmen mir meine anfängliche Angst vor der Kälte. „Du darfst nicht schwitzen“, sagt Mimberg, als wir uns spät am Abend vor der Nacht im Zelt noch ein wenig bewegen. Eine kleine Wanderung durch die Dunkelheit, über das Eis, inmitten des permanenten Schneefalls.

Als ich seinen Tipp nickend abtue, merke ich, dass es bereits zu spät ist. Vermutlich habe ich mich für diese Wanderung zu dick eingepackt. Thermounterwäsche, T-Shirt, Pullover, Sweatshirt- und Daunenjacke sorgen dafür, dass mir der Schweiß den Rücken benetzt. Mir ist warm – bei minus 12 Grad. Da ist sie wieder, die Angst vor der kommenden Nacht.

Im Schlafsack gilt: Weg mit den Klamotten

Die folgenden Worte von Mimberg und Mende nehme ich nur beiläufig wahr. Was nun? Du hast geschwitzt, frierst du dich heute Nacht deswegen kaputt? Weg mit diesen Gedanken, das wird schon.

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Wir unterhalten uns ein wenig, bevor die Müdigkeit aufkommt. Wir lachen, es ist kalt. Wir blödeln fast schon rum, reden über den Lockdown, über das, was wir vermissen. Mir fehlen mein Bett, meine Heizung, meine Freundin.

Jetzt aber beginnt das Abenteuer. Umständlich schäle ich mich in meinen Schlafsack. „Am besten ist, du hast so wenig wie möglich an“, hatte Mende Stunden zuvor gesagt. In meinem Schlafsack entledige ich mich unbeholfen der Stoffe, die mir vor dem Zelt noch Wärme geschenkt haben. Mir wird mulmig. Es ist still, einzig mein Herzschlag ist zu hören. Die Atmung ist schwer, ich spüre die Aufregung. Wie soll ich so schlafen? Ich ziehe den Schlafsack über meinen Kopf und versinke in der Dunkelheit. Allein mit meinen Gedanken und meinem Puls. Ob das tiefe Schlagen meines Herzens ein gutes Zeichen ist?

Umgeben von Frost

Das Zelt ist von innen mit Frost belegt, wie am klaren Sternenhimmel schimmern die Eiskristalle. Mir schaudert es. Meine Hände graben sich tief in den Schlafsack, ich ziehe den Schal über den Eiszapfen im Gesicht, der sonst meine Nase ist.

Der Handabdruck an der gefrorenen Innenwand seines Zeltes.
Der Handabdruck an der gefrorenen Innenwand seines Zeltes. © Westfalenpost | Fabian Vogel

Es hilft nichts, ich muss diese Nacht durchbringen, der Morgen verspricht Besserung. Weg von diesem Ort, wo alles kalt ist. Wo ich mich trotz Begleitung auf mich allein gestellt fühle. Wieder wischt die Müdigkeit meine Bedenken weg, die Augen fallen zu.

Das Handy vibriert unter mir. Die Wärme meines Körpers hat dafür gesorgt. 7.45 Uhr. Es ist geschafft, Erleichterung und ja, ein wenig Stolz überkommen mich. Ich habe sie überstanden, die arktische Nacht am kältesten Punkt meiner Heimat.