Hagen. Auf die ausländischen Pflegekräfte ist Verlass. Trotz Widrigkeiten und Ängste reisen sie nach Deutschland und machen ihren Job.

300.000 Menschen sind in Deutschland auf ausländische Betreuer angewiesen. Die unsichere Gesetzeslage und mögliche Grenzschließungen in Pandemie-Zeiten schüren die Angst bei betroffenen Familien, von heute auf morgen ohne Hilfe auskommen zu müssen. Aber droht tatsächlich eine Versorgungslücke?

Auf Grazyna Hartinger ist Verlass. Die Polin hat ihren Koffer bereits gepackt. Kleider, ein paar Bücher, ein Foto ihrer Familie. Am Montag wird die 66-Jährige zum dritten Mal ins Siegerland reisen, um dort eine Seniorin zu pflegen. 1000 Kilometer in einem kleinen Bus liegen vor ihr. „Ich muss nur noch am Sonntag den Schnelltest bestehen, der 48 Stunden vor dem Einsatz in Deutschland vorgeschrieben ist, dann kann es losgehen“, erzählt die Frau, die seit elf Jahren diesen Job ausübt. Mit 66 Jahren gehört sie zur Risikogruppe. „Aber ich brauche das Geld“, erklärt die ehemalige Transportleiterin. Natürlich fahre die Angst mit. „Viele Dinge gehen mir durch den Kopf und die ständig wechselnde Gesetzeslage verunsichert mich.“ Etwas beruhigt sei sie, weil sie im Siegerland in einem Haushalt arbeite, der in einem kleinen Dorf liege. „In eine Stadt wäre ich wohl nicht gefahren“, gesteht Grazyna Hartinger. Da sei ihr das Ansteckungsrisiko zu groß.

Positives in der Corona-Krise

Claudia Menebröcker vom Caritasverband für das Erzbistum Paderborn, die sich um das bundesweit beachtete Modell CariFair kümmert, kennt viele ausländische Betreuungskräfte wie Grazyna Hartinger, die ihre Familien in Deutschland auch in schwierigen Zeiten nicht im Stich lassen. 500 Betreuungskräfte vermittelt CariFair in 300 Familien. Der Kollaps bei der Pflege, erzählt die Soziologin, sei ausgeblieben, auch von Engpässen könne keine Rede sein. Die Corona-Krise habe sogar etwas Positives bewirkt: „Nicht wenige der etwa 90 Prozent illegal arbeitenden Kräfte in Deutschland haben mittlerweile einen Vertrag bekommen“, so Claudia Menebröcker. Das bestätigt auch der Verband für häusliche Pflege und Betreuung. Nach den Grenzschließungen im Frühjahr 2020 und den verschärften Einreisebestimmungen haben demnach immer mehr Familien ihren schwarz arbeitenden Helfern zu legalen Verträgen verholfen.

Tipps von der Verbraucherschützerin

Und was geschieht, wenn die Betreuerin aus dem Ausland plötzlich doch nicht mehr kommt? „Das sind bisher nur Einzelfälle“, weiß Ellen Tenkamp vom Pflegewegweiser der Verbraucherzentrale NRW zu berichten. Aber jeder Einzelfall sei für betroffene Familien eine Katastrophe. „Da die ambulanten Pflegedienste am Limit arbeiten, bleibt den Angehörigen von zu pflegenden Personen dann oft nichts anderes übrig, als sich selbst mehr zu engagieren.“ Wem das drohe, dem empfiehlt Ellen Tenkamp auch unkonventionelle Schritte zu gehen: „Zum Beispiel, die Hilfe der Nachbarn einzufordern.“ Früher hätten ungelernte Betreuungskräfte vor einem Einsatz noch Pflegehilfekurse belegen müssen. In Pandemie-Zeiten, so die Verbraucherschützerin, sei das hinfällig. Eine derartige unbürokratische Nachbarschaftshilfe könnte finanziell zum Teil durch den Entlastungsbetrag für Pflegebedürftige abgedeckt werden. Hilfreich könnte auch die Anforderung des Pflegeunterstützungsgeldes sein. „Notfalls kann man sich bis zu 20 Tagen von der Arbeit freistellen lassen.“ Diese Zeit könne dafür genutzt werden, Kurzzeitpflege zu organisieren, rät Ellen Tenkamp.

„Zugenommen hat seit Pandemie-Ausbruch die Beratung der Familien“, berichtet Ellen Tenkamp. Coronabedingt machten sie mittlerweile 30 Prozent aus. Viele Familien fühlten sich von den Pflegeagenturen unfair behandelt, weil sie Zuschläge von 150 Euro für zusätzliche Ausgaben für regelmäßige Schnelltests etc. fordern. „Aus Angst, die Betreuungskraft zu verlieren, zahlen die meisten diese Zuschläge.“

Die Pflegehelden aus dem Sauerland

Emilia Krämer, die mit ihrem Mann die Pflegeagentur „Pflegehelden“ mit Sitz in Lennestadt leitet, vermittelt Betreuungskräfte wie Grazyna Hartinger für 60 Familien im Sauer- und Siegerland. „Unsere Kunden sind gut versorgt“, berichtet die Altenpflegerin und Krankenschwester. Viele ihrer Pflegekräfte seien älter als 60 Jahre. Reisebeschränkungen und die Angst, sich oder andere in Deutschland anzustecken, setzten ihnen zu. „Deshalb bieten wir ihnen psychologische Hilfe an.“ Bisher habe es aber keine Ausfälle gegeben, lautet das Fazit von Emilia Krämer.

Eine gefragte Ansprechpartnerin vor allem für polnische Betreuungskräfte ist Agnieszka Misiuk, die für den Deutschen Gewerkschaftsbund bei Fair Mobil arbeitet. Auch sie berichtet von einer „entspannten Betreuungslage durch ausländische Pflegekräfte in Deutschland“, verweist aber auf andere Ursachen: „Immer mehr Menschen verlieren in der Krise in Polen ihre Arbeit. Als Friseurin, als Kellnerin. Die drängen auf den Markt, brauchen Geld und nehmen vieles in Kauf.“ Wenn das Telefon bei ihr klingelt, dann höre sie oft, wie enttäuscht vor allem die seit längerem tätigen Betreuungskräfte darüber sind, „dass sie in Pandemie-Zeiten für ihren verlässlichen Einsatz keine Wertschätzung erhalten, geschweige denn eine Prämie“.

Die Auswirkungen der ersten Corona-Welle auf die Pflegesituation in Deutschland mit Blick auf die ausländischen Betreuungskräfte hat das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung in Berlin untersucht. „Wir haben von Juni bis September zahlreiche Interviews mit Vermittlungsagenturen durchgeführt“, berichtet Susanne Bartig. Ihre Bilanz: Im April sei es temporär zu Ausfällen vor allem polnischer Pflegekräfte gekommen. Zudem habe es eine große Verunsicherung bei allen Beteiligten gegeben. Kurzzeitig sei die Nachfrage nach Betreuungskräften gestiegen, „weil viele Familien aus Angst vor Ansteckung in den Pflegeheimen ihre Liebsten nach Hause geholt haben“. Da viele Pflegerinnen und Pfleger, aus Sorge nicht wieder Einreisen zu dürfen, gleich in Deutschland geblieben seien, hätten die Agenturen ihr Angebot aufrechterhalten können.

Die Sorgen der Familien

Die gebürtige Sauerländerin Annette Stahlhacke ist froh, dass auf die Betreuungskräfte aus dem Ausland auch in Krisen-Zeiten Verlass ist. Seit drei Jahren lässt die in Offenbach lebende 57-Jährige ihre 87 und 91 Jahre alten Eltern in Drolshagen pflegen. Zu Beginn der Pandemie sei die Sorge vor einem Ausfall groß gewesen, erzählt sie. Die Ungewissheit habe an den Nerven gezerrt. „Das hätte mich in Verlegenheit gebracht. Für ein paar Tage hätte ich einspringen können, aber bei meinem Arbeitgeber längere Zeit auszufallen, wäre zu einem Problem geworden.“ Dass die Betreuungskräfte nun statt acht Wochen im Schnitt drei bis vier Monate bei ihren Eltern verbringen, beruhige sie ungemein.