Drolshagen/Lingen. Immer mehr Menschen trauern um Angehörige, die durch Covid-19 gestorben sind. Eine Sauerländerin über den Verlust der Großmutter

Keine letzte Umarmung, um Trost zu spenden, kein letzter Blick, kein letztes Mal die Hand halten. Diese Gewissheit zerrt an Hiltrud Frese. Die 55 Jahre alte Kriminalbeamtin aus Lingen im Emsland konnte sich in den letzten Stunden nicht mehr von ihrer Mutter Theresia Weidlich persönlich verabschieden.

Die 90-jährige Mutter von zwei Töchtern, einem Sohn und Großmutter von neun Enkelkindern, starb an einer Corona-Infektion im Krankenhaus. In der Nacht. Allein.

Das Virus hat sich in die Familie eingeschlichen

Wie es ist, einen geliebten Menschen durch die Pandemie zu verlieren, wenn gleichzeitig Corona-Leugner ihre Auftritte in den sozialen Medien zelebrieren, darüber berichten Hiltrud Frese aus dem Westen von Niedersachsen und die „Schwiegertochter in Spe" aus Drolshagen im Sauerland.

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Mit Verlust geht jeder anders um. Hiltrud Frese hat sich auf das Gespräch mit dieser Zeitung vorbereitet. Es ist ihr ein Anliegen. Sachlich beschreibt sie, wie das Virus sich in die Familie eingeschlichen hat. Ab und zu stockt ihr der Atem. Covid-19 hat auch ihre Lunge angegriffen. Aber die sportliche Frau lässt sich nicht unterkriegen. Sie kämpft sich langsam ins Leben zurück.

Regelmäßig bei geselligen Veranstaltungen, als diese noch erlaubt waren

„Meine Mutter", berichtet Hiltrud Frese, „war auch mit 90 Jahren noch sehr rüstig. Neben ihrer Familie freute sie sich auf Treffen mit ihrem Kegelclub, den Nachbarsfrauen, Seniorenveranstaltungen und andere gesellige Verabredungen, als es noch erlaubt war. Einmal in der Woche besuchte sie die Tagespflege in einem nahegelegenen Seniorenheim. Sie litt unter keinen schweren gesundheitlichen Problemen." Covid-19 aber brachte sie um. In nur zwei Wochen.

Hiltrud Frese erinnert sich noch gut an den 27. November vergangenen Jahres: „Es war ein Freitagmorgen." Mit einem „ich fühle mich nicht gut" habe alles angefangen. Ihre Mutter erzählte ihr am Telefon, dass sie starke Kopf- und Gliederschmerzen habe, kein Fieber.

Das Gesundheitsamt rief an

Am Abend fuhr die 55-Jährige zu der Seniorin, brachte ihr noch Besorgungen für das Wochenende. Am Samstag telefonierten beide noch einmal miteinander. „Sie erzählte mir, dass es ihr etwas besser geht."

Am Sonntag rief das Gesundheitsamt die 90-Jährige an. „Ihr wurde mitgeteilt, dass sie sich in Quarantäne begeben sollte. Sie war am Dienstag zuvor zur Tagespflege im Altenheim. Eine der Mitarbeiterinnen, mit der sie Kontakt hatte, war positiv getestet worden", berichtet die Kriminalbeamtin.

In Quarantäne: Auch der Sohn nebenan durfte sie nicht besuchen

Am Sonntag begann Theresia Weidlichs Quarantäne. Ihr 58 Jahre alter Sohn wohnt mit seiner Familie direkt nebenan, musste ab sofort auch den Kontakt meiden. „Ich dachte, jetzt sitzt Mama ganz allein in ihrer Wohnung und keiner kann hin", erzählt Hiltrud Frese.

Am selben Abend teilte die Seniorin ihrer Familie per Telefon mit, dass sie sich etwas besser fühle. „Wir haben ihr Mut gemacht", so Hiltrud Frese. Am Dienstag erhielt die Beamtin an ihrem Arbeitsplatz einen Anruf ihrer Schwester. Die Mitteilung: „Mama fühlt sich total erschöpft, sie muss sich erbrechen und hat starke Kopfschmerzen. Wir können sie nicht länger allein in ihrer Wohnung belassen."

Mit dem Rettungswagen ins Krankenhaus

Da die Hausärztin wegen der angeordneten Quarantäne keinen Hausbesuch machen wollte, verständigte die Schwester die Rettungsleitstelle. Die Mutter wurde mit dem Krankenwagen ins nahegelegene Krankenhaus gebracht. „Ich habe kurz vor ihrem Abtransport draußen vor dem Krankenwagen noch einmal mit meiner Mutter gesprochen. Es war das letzte Mal, dass ich sie vor ihrem Tod gesehen habe", berichtet die 55-Jährige.

„Ich folgte dem Rettungswagen, um meine Mutter ins Krankenhaus zu begleiten. Doch dort wurde ich abgewiesen, da ein Verdacht auf Covid-19 bei ihr nicht auszuschließen war. Am gleichen Abend erfuhren wir dann über das Krankenhaus, dass meine Mutter tatsächlich an diesem Virus erkrankt war und sie auf der Covid-Station stationär aufgenommen worden sei. Besuche seien nicht zulässig."

Handschriftlicher Brief beim Pförtner abgegeben

Am Dienstagabend gab der Bruder ihr Seniorenhandy und einen handschriftlichen Brief beim Pförtner im Krankenhaus ab. Der Inhalt des Briefes? Sehr persönlich: „Ich bat sie darin, durchzuhalten, nicht aufzugeben", erzählt die Polizistin.

Ein Anruf mit dem Handy am nächsten Morgen schürte Hoffnung: „Mir geht es besser", teilte die Seniorin der Familie mit. Doch dieser Zustand hielt nicht lange an. Kopfschmerzen, Erbrechen, Übelkeit setzten wieder ein. Drei Tage später merkten wir, dass sie sehr kurzatmig war." Sie habe sich nicht beklagt, „aber an der Stimme konnten wir erkennen, dass sie den Mut verlor". Am Nikolaustag riefen einige der neun Enkelkinder bei ihr an und verabschiedeten sich mit „Oma, wir sehen uns Weihnachten".

Adventsmusik gegen die Einsamkeit

Nach dem 6. Dezember, berichtet Hiltrud Frese, sei Telefonieren mit ihr nicht mehr möglich gewesen. „Die Pfleger waren für sie da. Auf unseren Wunsch schalteten sie ihr den Fernseher ein mit Adventsmusik und Lieblingssendungen, um ihr die Einsamkeit ein wenig zu nehmen", erzählt Hiltrud Frese.

In den folgenden Tagen verschlechterte sich der Zustand ihrer Mutter. Am Dienstag teilte ein Arzt der Familie mit, dass man medizinisch alles versucht hätte, aber die Nieren nicht mehr richtig arbeiten würden und auch andere Organe betroffen wären.

Künstliche Beatmung wollte sie nicht

„Über die Möglichkeit künstlicher Beatmung wurde gesprochen. Meine Mutter wollte das aber nicht", sagt die 55-Jährige. Pfleger teilten in der Folgezeit in den zahlreichen Gesprächen über das Stationstelefon mit, dass es nicht gut aussehen würde.

„Das war für uns eine schwierige Zeit, weil wir selbst in Quarantäne waren und uns elend fühlten. Nur meine Schwester war negativ getestet worden. Sie durfte nun in dieser lebensbedrohlichen Situation mit Schutzkleidung kurz zur Mutter, ihre Hand halten und versuchen ihr zu vermitteln, dass sie nicht allein ist."

Todesnachricht um 5 Uhr morgens

Auch am Donnerstag war ein kurzer Besuch unter strengen Schutzmaßnahmen möglich. An diesem Tag sei sie aber schon nicht mehr ansprechbar gewesen.

Am Freitag, um 5 Uhr, erhielt die Familie die Nachricht, dass Theresia Weidlich gestorben ist. Die Beamtin hatte gehofft, sie nach Beendigung der Quarantäne am nächsten Tag besuchen zu dürfen. „Niemand sollte allein sterben. Nach ihrem Tod durfte unsere Mutter vom Bestatter nicht mehr umgekleidet werden. Sie wurde schlicht eingetütet. Gesehen haben wir sie nicht mehr."

Mutter war ein lebenslustiger Mensch

Hiltrud Frese beschreibt ihre Mutter als einen lebenslustigen Menschen: „Sie feierte und lachte gern, kochte unser Lieblingsessen, wenn wir kamen. Ihr Glaube war ihr wichtig, die Kirchengemeinschaft. Sie war eine Frau, die sich auch nach dem Tod meines Vaters kurz vor dem 60. Hochzeitstag nicht unterkriegen ließ. Und für die Familie war sie immer da", so Hiltrud Frese, die wie ihr Lebensgefährte (62) und ihr Bruder kurz nach dem Ergebnis der Mutter ebenfalls positiv getestet wurden.

Neben der Sorge um ihre Mutter kämpfte Hiltrud Frese mit ihrem Partner während der Quarantäne-Zeit in den eigenen vier Wänden gegen das Virus. „Es war ein Auf und Ab. Wir hatten mal erhöhte Temperatur, dann bis 39 Grad, dann sank die Temperatur wieder auf 37 Grad, dann schnellte sie an einem anderen Tag wieder in die Höhe."

Paar fühlte sich sehr schlapp

Nur die Kopfschmerzen hätten sie über Wochen begleitet. „Das war irritierend, weil andere Symptome wie Gelenk-, Gliederschmerzen, extremes Frieren, dann wieder Schwitzen, Übelkeit und Durchfall kamen und gingen. Wir fühlten uns wahnsinnig schlapp, obwohl wir beide Sportler sind und mehrmals in der Woche Laufen, Fahrradfahren."

Hiltrud Freses Lebensgefährte litt auch unter Nervenschmerzen: „Er konnte nichts auf seinem Brustkorb ertragen, noch nicht einmal ein T-Shirt", erzählt sie. Dann sei der trockene Husten gekommen, dazu Atembeschwerden. Sie ließ ihre Lunge röntgen. Die Mediziner entdeckten milchartige Eintrübungen.

Seit fast acht Wochen arbeitsunfähig

Seit fast acht Wochen ist die 55-Jährige arbeitsunfähig. Und ihr Bruder? Ein gesunder, sportlicher, aktiver Zivilangestellter der Bundeswehr? Er erlitt sehr ähnliche Symptome und am 3. Januar einen Herzinfarkt. Covid-19, so die Ärzte, könnte ihn beschleunigt haben.

Das Abschied nehmen auf Distanz fiel auch der 26-jährigen Schwiegertochter in spe aus Drolshagen besonders schwer. „Thea", so nannte sie die Seniorin, „nicht ein letztes Mal gesehen zu haben, hat meinen Freund und mich belastet. Aus Angst vor einer eventuellen Ansteckung konnten wir nicht zur Beerdigung am 18. Dezember kommen. Auch aus Rücksicht auf meine Familie im Sauerland."

Familienbesuche ganz wichtig

Im Sommer 2016 traf die Sauerländerin die Großmutter ihres Freundes zum ersten Mal: „Wir sahen uns auf einem Grillfest der Familie in Lingen." Kurz zuvor hatte die junge Frau beim Studium in Bonn Hiltrud Freses Sohn kennengelernt. Nach Möglichkeit reiste das junge Paar einmal monatlich über das Wochenende ins Emsland.

„Familienbesuche", so die Sauerländerin, die sich immer auf die Begegnungen mit Theresia Weidlich freute. „Sie war ein Familienmensch. Immer interessiert, wie es uns in der Ferne so geht. Über unsere Prüfungen war sie stets im Bilde." Das Verhältnis sei sehr gut gewesen. „2019 war sie noch zu Besuch an unserem Studienort in Bonn."

Stimme stockte immer wieder

Der Satz „Sie wird wohl sterben" von Hiltrud Frese habe sie „sehr mitgenommen", sagt die Drolshagenerin. Ein letztes Mal riefen die 26-Jährige und ihr Partner die 90-Jährige am Nikolaustag an: „Mein Freund hat den Lautsprecher auf laut gestellt. Ihre Stimme stockte immer wieder, weil sie Luft holen musste. Das Telefon hielt jemand an ihr Ohr."

Die Sauerländerin hofft, dass ihre Großmutter (89), die in Drolshagen lebt, bald geimpft wird. „Ich will nicht noch jemanden an diese Krankheit verlieren", erzählt sie. Die Corona-Leugner und diejenigen, die Covid-19-Erkrankungen als „leichte Grippe" herunterspielen, machen die junge Frau wütend. „Empathie- und respektlos anderen gegenüber", fällt ihr dazu ein. Sie findet Menschen, die sich selbst zu jeder Zeit einfach nur toll finden und glauben, ihnen könne die Krankheit nichts antun, „unfassbar ignorant".

Der Tod hat eine Lücke gerissen

Der Tod von Theresia Weidlich hat im Emsland und im Sauerland eine Lücke gerissen. Sie fehlt den Menschen, die sie liebten. In besonders schweren Stunden startet Hiltrud Frese die Sprachnachricht ihrer Mutter auf ihrer Smartphone-Mailbox und lauscht ihrer Stimme, die fragt: „Wo seid ihr gerade, ich wollte nur mal eben hören, wie es euch geht?"