Marburg. Der Impfstoffproduzent Biontech baut in Marburg sein größtes Werk auf. Besuch in einer Stadt, die schon einmal die Welt gerettet hat.
Das Gebäude wirkt zu klein für die viele Hoffnung, die es beherbergen soll. Fünf Stockwerke, gleichförmige Fensterreihen, unten brennt Licht, oben dampft ein Schornstein. Industriecharme. Rohrleitungen aus Aluminium winden sich in eckigen Winkeln durch das Tal, von dem aus die Welt gerettet oder zumindest die Freiheit befreit werden soll. Es ist ein Haus von vielen in diesem Pharmadorf direkt hinter dem Ortseingangsschild Marburg. Grün aber schimmert der Schriftzug ganz oben auf dem Haus: Biontech.
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Die Firma, die den vor einigen Wochen ersten in Europa zugelassenen Impfstoff gegen das Coronavirus entwickelt hat, baut in Oberhessen – 30 Autominuten vom Kreisgebiet Siegen-Wittgenstein in NRW entfernt - ihr wichtigstes Werk auf. Was jetzt noch rar ist, könnte vor den Toren Südwestfalens so reichhaltig hergestellt werden, dass Deutschland, Europa und die Welt sich vor dem Virus schützen können.
Dr. Thomas Spies trägt Mantel, Anzug, Hemd und eine blaue Maske, auf der „Marburg“ steht. Er schlendert durch die Stadt, vorbei an engen Gängen und an windschiefem Fachwerk, über Kopfsteinpflaster, das da seit Hunderten Jahren liegt, weil die Stadt Pilgerort war. Die Menschen kamen, um Heilung zu erfahren. Nun kommt die Heilung zu den Menschen. „Das ist eine Riesenchance und eine besondere Verantwortung für die Stadt und die Region“, sagt der Mann, der seit 2015 Oberbürgermeister in Marburg ist. „Eine Verantwortung, die wir aber kennen: Dass ein Impfstoff von Marburg aus die Welt verändert, das hat es schon gegeben.“
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Vor etwas mehr als 100 Jahren, als Emil von Behring, 1901 mit dem ersten Nobelpreis in Medizin geehrt, sein Preisgeld dazu verwendete, eine Fabrik in Marburg zu bauen, in der sein Serum gegen Diphterie und Tetanus produziert werden konnte. Der Beginn der Entstehung der Behringwerke im Hinkelbachtal, in dem heute mehr als zehn Unternehmen 6000 Menschen beschäftigen. Ringsherum erheben sich bewaldete Hänge. Ein Zwei-Meter-Zaun umgibt das gesamte Gelände, eine Schranke mitsamt bärtigem Wächter schützt vor unangekündigten Besuchern. Ein Mann mit blauer Mütze und groben Schuhen, der auch als Handlanger eines Bond-Bösewichts durchgehen könnte, geht auf der Straße hin und her und telefoniert laut in sein Headset.
Im September hat Biontech die Produktionsstätte für biotechnologische Substanzen vom Schweizer Pharma-Unternehmen Novartis gekauft. Preis: geheim. Der Aufbau eines solchen Labors mitsamt der Rekrutierung von Mitarbeitern und deren Know-How würde Jahre dauern. In diesem Fall aber nur wenige Monate. Im Februar schon soll die Produktion beginnen können, auch weil alle 300 Mitarbeiter übernommen werden. Biontech werde von ihren „beeindruckenden Fähigkeiten und ihrer Expertise profitieren“, wird Dr. Sierk Poetting, Chief Operating Officer von Biontech, in einer Pressemiteilung zitiert.
Das Werk in Marburg – 90 Minuten vom Frankfurter Flughafen und eine Stunde vom Biontech-Firmensitz in Mainz entfernt - verfügt bereits über Zellkultur-Labore und weitere hochmoderne Anlagen für die Gentherapie. Dennoch muss es noch weiter umgebaut werden. Das geschieht derzeit. Sogenannte Reinräume müssen zum Beispiel geschaffen werden, teilt Biontech auf Nachfrage mit, Räume also, in deren Luft sich keine oder kaum Partikel befinden. Lüftungstechnische Anlagen müssen dafür eingebaut werden, Zuleitungen und Zuwegungen entsprechend verändert werden. Das zuständige Regierungspräsidium Gießen teilte am Freitagnachmittag mit, dass Biontech eine Genehmigung zum Betrieb der Anlage per Kurier zugegangen sei. „Der Fortschritt beim Produktionsprozess in Marburg macht uns Mut und lässt uns zuversichtlich in die Zukunft blicken“, erklärt Ministerpräsident Volker Bouffier.
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Die Stadt trägt ihren Teil bei. Nach zwei Tagen sei die Baugenehmigung dagewesen, die schnellste „der letzten 100 Jahre“, sagt Spies, der Oberbürgermeister. Er ist bemüht darum, dem Pharmastandort beste Bedingungen zu bieten, vor allem jetzt, da die Welt nach Marburg schaut. In den vergangenen zehn Jahren habe es einen Wachstum um 30 Prozent gegeben. „Die Gewerbesteuereinnahmen, die von dort kommen, stellen sicher, dass in der Stadt alles passiert, was nötig ist.“ Es gibt einen Masterplan für den Standort für die nächsten 15 Jahre. „Life Sciences spielen an der Universität Marburg eine große Rolle. Das bietet Potenzial weit über den Tag hinaus“, sagt Spies.
Ein Drittel der Bürger in der 75.000-Einwohner-Stadt sind Studenten. Sie kommen von überall her. Deswegen sei Marburg ein liberaler und weltoffener Ort. „Die Bürger sind angetan, dass der Impfstoff demnächst hier produziert wird. Ich habe noch keinen gehört, der dagegen ist“, sagt Spies.
Ein paar Meter unterhalb des Rathauses hat Sandra Steidl-Hummel ihren Laden in der Fußgängerzone. Landfräulein heißt er und bietet unter anderem französische Spezialitäten. Sie räumt gerade zusammen. Wochentags um 15 Uhr. Feierabend. „Manchmal schaue ich die Straße rauf und runter und sehe keinen Menschen“, sagt die Chefin in die Stille der Stadt. „Wir haben andere Sorgen als die Frage, wo der Impfstoff produziert wird. Denn ich glaube nicht, dass wir hier vor Ort dadurch einen Vorteil haben.“ Er wird mehrheitlich in die Welt hinausgehen. „Man merkt: Die Menschen haben Angst. Das wird sich erst entspannen, wenn die Leute geimpft sind.“
Die Rettung ist nah – und doch noch so fern.