Hagen/Berlin. Der frühere Manager der Band Extrabreit hat ein Online-Netzwerk für Krebs-Betroffene gegründet. Hier berichtet er, warum das so wichtig ist
Die Kulturszene ist reich an Phönix-aus-der-Asche-Geschichten. Eine der wundersamsten schreibt Jörg A. Hoppe (68), Extrabreit-Manager, Musikkanal-Viva-Gründer, „Bauer sucht Frau“-Erfinder, preisgekrönter Dokumentarfilm-Produzent. Mitten in diese Erfolgsleiter grätscht der Krebs. Und wieder sieht Hoppe, was viele ahnen, aber keiner anpackt. Die Zeit ist reif für eine App-basierte Selbsthilfegruppe, ein Online-Netzwerk der Krebs-Patienten. „Yeswecan!cer“ wird zum Riesenerfolg. „Sicherlich ist die Initiative auch zum richtigen Moment das richtige Produkt und Movement. Und ein Geschenk für mich, in meinem Alter und mit dieser Krebsgeschichte in dieser großen Aufgabe nun meine Berufung und Erfüllung zu finden,“ konstatiert Hoppe.
Hagen war der Arsch der Welt
Ein bekanntes Bild zeigt die junge Nena, wie sie im August 1983 auf der Geburtstagsparty von Jörg A. Hoppe tanzt. Der hat seine Heimatstadt Hagen damals gerade in Richtung Berlin verlassen, experimentiert mit TV-Formaten und mietet zur Feier des Tages ein Schiff. Hoppe wird berühmt. Erwartbar ist das nicht. „Hagen war in den 1980ern fürchterlich, der Arsch der Welt. In Wuppertal und Dortmund war auch nix los. In der Stadt hatte man die Jugend vergessen, und wir haben gesagt: OK, das machen wir jetzt selbst, Kneipe, Kino, Plattenlabel, Zeitung.“ Das Ergebnis ist die Neue Deutsche Welle.
Ein Mann der ersten Stunde des Musikvideos
Dieses Motto „Es fehlt etwas, und ich mache es jetzt selbst“, begleitet Jörg A. Hoppe von da an. Er ist ein Mann der ersten Stunde des Privatfernsehens und arbeitet für Vox und RTL ebenso selbstverständlich wie für ARD und ZDF . Er entdeckt Tim Mälzer, Stefan Henssler, Verona Feldbusch, Wigald Boning und viele mehr. Aber eigentlich ist er kein Talentscout, sondern ein Trendmagnet. „Damals in Hagen kam ja das Bewegtbild im Musikjournalismus auf, das Musikvideo. Im tiefsten Herzen bin ich Journalist, also jemand, der Geschichten erzählen möchte. Und neue Technologien haben mich immer fasziniert. In Hagen habe ich ein Schallplatten-Label gegründet. In München Videos von Bands gedreht. In Hamburg waren wir dann die ersten, die eine Website für die Tagesschau gemacht haben. Diese Neugierde hat mich immer getrieben.“
Den Typen im Spiegel kenne ich nicht
Jeder Mensch geht mit einem Geschenk durchs Leben: Der Aura der Unverwundbarkeit. Wer an Krebs erkrankt, verliert dieses selbstverständliche Vertrauen in den eigenen Körper. Das schafft Scham und Ausgrenzung. „Ich bin an den Punkt gekommen, wo ich zu meiner Frau gesagt habe. Den Typen, den ich im Spiegel sehe, den kenne ich nicht und den will ich auch nicht kennen lernen. Ich hatte keine Hoffnung, dass ich das überstehe. Dann haben meine Freunde gesagt: Wir schaffen das.“
Aus Dankbarkeit bedruckt Hoppe T-Shirts mit dem Schriftzug „YesWeCan!cer“ und schenkt sie Weihnachten seinen Freunden. Die Nachfrage ist riesig, auch im Krankenhaus. Es geht bergauf. Dann kommt 2017 aus heiterem Himmel der Magendurchbruch. Not-OP. Kollateralschaden von Chemo und Bestrahlung. „Die haben im Krankenhaus gesagt: Herr Hoppe, verabschieden Sie sich von ihrer Frau. Als ich das auch noch überlebt habe, war ich am Ende und habe Depressionen bekommen. Da habe ich eine Selbsthilfegruppe gesucht und gemerkt, dass die Ärzte immer weniger Interesse an einem haben, und die Kollateralthemen wie Dermatologie interessieren sie überhaupt nicht.“
Ein Tinder für Krebspatienten
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Der Musikexperte gründet kurzerhand „ein Tinder für Krebspatienten“, wie er seine App bezeichnet. „24 Monate später nutzen 10.000 Betroffene die App und die YES!CON, die erste digitale Krebs-Convention, ist ein großer Erfolg. Jetzt haben wir unsere Proof of Concept-Phase hinter uns und wir freuen uns zu sehen, dass unsere Idee und dieses Projekt wichtig sind“, sagt Hoppe. Die Vision steht: Über die YES!App soll man sich nicht nur mit Betroffenen austauschen, sondern auch Cancer-Coaches ans Telefon kriegen können. Im Hintergrund leistet eine große Gruppe von Experten Rat und Tat. Die App soll ein Medizinprodukt mit Finanzierung durch die Krankenkassen werden. Künstliche Intelligenz soll bei der Verwaltung von Daten helfen, so dass der Patient nicht mit jedem Arzt wieder bei Null anfängt.
„Das ist der nächste Schritt, damit wollen wir auch Geld verdienen, weil wir kein Geld für das Projekt sammeln wollen. Das finde ich unmöglich. Solange wir für Krebs betteln gehen müssen in diesem Land, kriegen wir die Krankheit nicht in den Griff.“
Sein Bruder, der in Iserlohn lebt, hat die Stammzellen gespendet, mit denen Jörg Hoppe überlebt hat. „Ja, ich bin ihm unendlich dankbar. Ich kenne Fälle, wo Geschwister das nicht gemacht haben. Beim Westerwelle ist der Spender am Abend vorher abgesprungen. Stammzellen spenden, das ist keine Kleinigkeit.“
Grenzen überwinden und Neues ausprobieren
Jetzt sieht sich Hoppe wieder vom Leben an eine Schaltstelle gerückt, so wie damals, im Jahr 1980 mit Extrabreit oder im Jahr 2000, als die Zeit reif war für Viva, und Hoppe den Musikkanal gründete. Obwohl in der Musik- und Medienbranche ausgeprägtes Schubladendenken herrscht, reizt es den Hagener, Grenzen zu überwinden und Neues auszuprobieren. „Irgendwie habe ich das Gefühl gehabt, dass ich durch meine Krankheit an einen Punkt geführt wurde, wo sich extrem ‘was bewegt.“
Seine ersten Gehversuche in den Mainstream-Medien hat Jörg A. Hoppe als freier Musikkritiker für die Westfälische Rundschau gewagt. Da konnte er über Nena und Extrabreit schreiben. Heute lebt er als einer der erfolgreichsten deutschen Musik- und Medienmanager mit seiner Familie in Berlin-Wilmersdorf. Zwei Straßen weiter wohnt Hartwig Masuch, ebenfalls Alt-Hagener, Nena-Entdecker und einer der Wegbereiter der Neuen Deutschen Welle. Inzwischen ist Masuch als CEO von BMG Rights Management einer der weltweit einflussreichsten Vertreter der Musikbranche. Die alten Weggefährten sind Freunde geblieben. „Kai Havaii habe ich erst letzte Woche in Hamburg besucht, mit Rolf Möller, Stefan Kleinkrieg und Heike Wahnbaeck schicke ich mir mal ne Whatsapp.“
In Corona-Zeiten besonders wichtig
Corona befeuert die Dringlichkeit der Selbsthilfe-App. Die Patienten können sich nicht in Selbsthilfegruppen treffen, weil sie mit unterdrücktem Immunsystem zur Hochrisikogruppe gehören. Stationäre Netzwerke brechen weg, aber der Krebs wartet nicht. Das bestärkt Jörg Hoppe in seinem Engagement. „Bestehende Gruppen haben sich über unsere App neu organisiert. Das war für uns wichtig zum Beweis, dass unsere Idee eigentlich eine sehr gute ist. Und um zu zeigen: Du bist nicht allein. Wir müssen den Krebs aus der Tabuzone holen.“
Hier gibt es die App: https://www.yeswecan-cer.org