Das Sauerland steht für Einkehr und Ruhe. Sogar der einsamste Ort liegt dort. Eine unnötig komplizierte Reise in die freiwillige Isolation.

Die letzten Meter sind steil und abenteuerlich. Merkwürdiger Ort. Heimtückisch gar, weil das, was beim Aufstieg Halt verspricht, selbst Halt sucht. Verlust der Balance. Griff nach einem Baum. Komplett entwurzelt, fast rückwärts gepurzelt deswegen. Ächzend oben angekommen. Das Ende einer Suche. Da ist er: der einsamste Ort in ­Nordrhein-Westfalen. Irgendwo in einem Wald zwischen Winterberg und Medebach im Hochsauerland. Wer’s deutlich genauer wissen mag: 51°11’09.9“N 8°36’48.1“E.

Errechnet hat dies der Berliner Datenspezialist Hans Hack. Er war auf der Suche nach der Stelle, die am weitesten von einer öffentlichen Straße entfernt liegt, um kein Auto hören zu müssen. Zu finden – wen wundert’s? – im Sauerland.

Entlegen.

Verwegen.

Wo keine Autos fahren, sind auch keine Menschen. Denn die will ich meiden. Das hat mit einem gewissen Hobby-Misanthropismus zu tun. Aber auch mit dieser Kleinigkeit namens weltweiter Corona-Pandemie. Ich bin dann mal weg. Ruhe suchen.

Störung einer heiligen Mission

Klappt super. Der Rasenmäher dröhnt hinter dem Landhotel Fernsicht in Winterberg. Eine Kreissäge kreischt unweit, ein älterer Herr hackt Holz direkt an dem Weg, den ich zu Fuß fortsetze. Ob man mit dem Auto näher an diesen einsamen Ort heranfahren kann? Ja, wie ich später merke. Aber von da, wo ich starte, sind es fünf Kilometer.

Start auf Asphalt. Nach wenigen hundert Metern verwandelt er sich in Schotter. Der Lärm bleibt, wo er ist, ist erst nur noch eine entfernte Ahnung und schließlich ganz verschwunden. Jeder Schritt knirscht. Ein Bächlein plätschert zur Rechten. Wie wunderbar.

Aber ich höre etwas. Stimmen etwa? Aus der Ahnung wird furchtbare Gewissheit. Menschen! Vier davon. Eltern mit ihren Teenager-Kindern. Der Papa lacht zu laut und sagt: „Das zahlt sich jetzt irre aus.“ Kein Wort der Entschuldigung für diese derbe Störung meiner heiligen Mission. „Hallo“, sagen sie. Ich nicke und fasse mich langsam – gaaaaanz langsam – wieder.

Rote Beeren wachsen an Büschen am Wegesrand. Ob sie giftig sind? Im Gras liegt eine tote Maus. Habe ich die Vegetationsgrenzen schon hinter mir? Ist das noch ein zumutbarer Lebensraum?

Schmetterlinge: Überlegene Kreaturen

Wieder Menschen. Sechs aus drei Generationen. Sie reden miteinander. Aber in welcher Sprache? Nicht englisch, nicht deutsch, nicht niederländisch. Wie weit bin ich gelaufen?

Nicht weit. Denn da ist der Wanderparkplatz „Ehrenscheider Mühle“. Letzte Automöglichkeit vor dem einsamsten Ort. Noch drei Kilometer bis dort.

Ist Stille eigentlich gut, wenn man allein ist? Denn sie spräche ja dafür, dass man sich selbst nichts zu sagen hat. Was denke ich eigentlich für einen Unsinn, denke ich? Warum sind Menschen so? Und warum sind ihnen Schmetterlinge so dermaßen überlegen? Lautlos gleiten drei Exemplare vorbei. Sie scheinen miteinander zu tanzen: ein roter, ein gelber, ein schwarzer. Und keiner von denen käme je auf die Idee, den anderen doof zu finden, weil er eine andere Farbe hat.

Fortschrittsgemästete Fahrräder rasen vorbei

Neben dem forstwirtschaftlichen Weg schlängelt sich ein Bächlein namens Orke ins Tal. Ich steige hinab in die Stille. Aber: welche Stille? Mountainbiker rasen an mir vorbei, das fortschrittsgemästete Profil ihrer Reifen lässt sie klingen wie eine Horde Hummeln.

Dann: Rennradfahrer.

Ein Traktor mit Heu auf dem Anhänger. Ein Lkw mit Holz auf dem Anhänger.

Ein Auto.

Noch eins.

Wo bin ich denn hier? Kamener Kreuz oder was?

Blauer Punkt bewegt sich auf roten Punkt zu

Zumindest die A2 gibt’s hier. Oder den. Ein Wanderweg. Stadt links, sagt ein Schild. Bloß nicht! Weiter auf Historischer Wanderpfad „Zeche Elend“. Klingt verheißungsvoll.

Aber es wird besser. Links im Wald zirpt es, rechts schreit ein Greifvogel und fliegt los. Die Orke bleibt an meiner Seite. Der blaue Punkt, der ich bin, nähert sich auf dem Handydisplay den eingegebenen Koordinaten, an denen eine rote Markierung steckt. Hoffentlich bin ich dieses Mal richtig. Denn mal unter uns: Schon einmal hatte ich mich auf den Weg gemacht, mich aber wegen eines bislang nicht näher definierbaren Fehlers an einen völlig anderen Ort begeben. Irgendwo nahe Bad Berleburg. Weiß zum Glück keiner.

Das Ende der Welt

Der Ort liegt offenbar oberhalb des Schotterweges. Ich schlage mich in die Wildnis. Nehme mir einen prächtigen Stock, weil ich nicht weiß, ob noch wütende Wildschweinsaison ist. Handyempfang? Nein. Kein Balken, kein Blinken, nichts. Aber hier müsste es doch sein: das Ende der Welt in diesem Bundesland. Die braunen, vom Borkenkäfer zerfressenen Fichten haben was von Endzeitstimmung.

Ob hier schon mal jemand war? Ja, klar, du Torfkopf! Schau dich doch mal um! Du stehst auf einer Art zugewuchertem Weg, der zu einem Hochsitz führt. Gebaut. Von Menschenhand.

Schöne Illusion ist es trotzdem. Der einsamste Ort. Hüfthohe Disteln. Felsgestein steigt daneben empor. Ein Teppich aus Nadeln, Tannenzapfen und Moos.

Unten auf dem Schotterweg fährt ein Auto entlang.

<<< Hintergrund >>>

Der Berliner Datenspezialist Hans Hack hat den einsamsten Ort bestimmt. Warum? „Der Gedanke, die Berechnung durchzuführen, kam mir, als ich merkte, wie schwer es oft ist, in der Stadt sowie auf dem Land einen Ort zu finden, an dem nicht ein Auto vorbeifährt.“

Die Analyse beruhe auf Geodaten einer offenen Datenbank (Open Street Map). „Für die Berechnung habe ich nur Straßen genommen, die nicht regelmäßig von Autos befahren werden. Der Punkt kann also auf einem Forstweg oder Wanderweg oder etwas ähnlichem liegen.“ Der einsamste Ort sei daher „eher eine subjektive Definition“.

Für die Berechnung wurde ein Raster von Punkten im Abstand von 200 Metern über die Deutschlandkarte gelegt und für jeden einzelnen Punkt berechnet, wie weit es von dort zu einer Straße ist. Das mache das Ergebnis auf mindestens 100 Meter genau.