Hagen. Die Chöre dürfen wieder proben, aber die Auflagen sind hoch. Sind die Abstandsregeln überhaupt erfüllbar? Eine Bestandsaufnahme in der Region
Die Chöre dürfen zwar wieder proben, aber nur unter Auflagen, die kaum erfüllbar sind. Vier Meter Abstand in Ausstoßrichtung des Atems müssen Sänger einhalten, vor einer Woche waren es noch sechs, und seitlich drei Meter. Viele Sängerinnen und Sänger reagieren kreativ auf diese Herausforderung. Im Vordergrund steht dabei allerdings die Raumfrage.
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Dienstagabend, 18.30 Uhr, Förder Platz in Lennestadt-Grevenbrück. 27 junge Sängerinnen und Sänger von SpontiCo kommen mit Klappstühlen zur ersten Chorprobe seit der Coronakrise. Mehr passen nicht abstandsgerecht auf die Fläche, das hat Chorleiterin Christa Maria Jürgens vorher mit dem Zollstock ausgemessen. Im Freien beträgt die vorgeschriebene Entfernung zwischen zwei Sängern nur drei Meter statt sechs in Atemrichtung und 1,5 Meter seitlich. „Die Jugendlichen wollen unbedingt proben, die sind das ganze Computergetöse einfach leid, die freuen sich auf ein Stück Alltag.“
Im SpontiCo singen die Großen der Chorjugend Grevenbrück; rund 150 Mädchen und Jungen sind Mitglied in den insgesamt vier Gruppen. Doch nicht alle SpontiCos finden im Freien Platz. „Der Plan ist, dass wir in zwei Gruppen arbeiten, so dass vierzehntägig eine Gruppe Probe hat“, erläutert Christa Maria Jürgens.
Alle Proben ausgesetzt
„Bis zu den Sommerferien haben wir alle Proben ausgesetzt, bei den Kinder- und Jugendchören genauso. Wir haben einfach keine geeigneten Räumlichkeiten“, sagt demgegenüber Dr. Peter Sölken von der Musikschule Hochsauerlandkreis, der in Arnsberg vier Chöre leitet, darunter den Männerchor Arnsberg 1880 mit 44 Aktiven und den Jungen Kammerchor.
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„Die Herren im Männerchor gehören alle zur Hochrisikogruppe. Wir machen Stimmproben per Videochat, das ist ganz schön. Wir suchen jetzt nach Räumlichkeiten, um nach den Sommerferien wieder zu starten.“ Die Arnsberger Chöre können sich vorstellen, ihre Proben künftig in einer Kirche abzuhalten, „die Musikvereine sind da schon schneller, die haben auch eigene Räume und Zugriff auf die Schützenhallen“.
Belastende Situation
Sölken findet es belastend, dass es nach wie vor keine gesicherten Erkenntnisse zu den Übertragungswegen des Coronavirus’ beim Singen gibt. Mit Hochdruck wird an dem Thema geforscht, aber die Ergebnisse widersprechen sich teilweise. „Das ist schon ein Schlauch für uns Chöre. Große Chorproben mit 50, 60 Sängern wird es wohl für längere Zeit nicht geben“, bedauert Sölken, ergänzt aber: „Kein Hobby ist es wert, dafür sein Leben aufs Spiel zu setzen.“
Die Briloner Musikerin Marie Becker gehört mit 27 Jahren zu den hochbegabten Nachwuchsdirigenten in der Region. Die Lehrerin leitet unter anderem die Music-Factory Sauerland, wo 54 Mädchen von Winterberg bis Meschede singen. „Tatsächlich überlegen wir, mit Satzproben wieder anzufangen“, sagt sie. „Wir haben bisher immer in einer Grundschule geprobt, das wird schwierig mit den Hygienemaßnahmen. Wir machen viel Onlinetraining und haben diskutiert, ob wir Outdoorproben machen können.“
Doch davon hält Marie Becker nicht viel. „Gerade draußen lässt sich kein Klangerlebnis für Chöre erreichen. Wie sollen die Kinder draußen bei diesem Abstand ihre Nachbarn hören? Mit Blasorchester kann ich mir das vorstellen, aber nicht mit zarten Kinderstimmen.“
20 Sänger in der Schützenhalle
Chorleiter Michael Nathen hingegen hat mit dem MGV Kirchhundem 1853 die Schützenhalle in Kirchhundem als Probenort gefunden. „Wenn man alle Abstandsregeln einhält, sind in der großen Schützenhalle mit 600 Sitzplätzen noch 20 Plätze für Sänger vorhanden“, beschreibt Nathen die skurrile Situation. „Jeder ist ein Solist, weil die Nebenleute nicht mehr da sind. Keiner kann sich mehr verstecken. Man kann auch viel von der Situation lernen.“ Ein richtiger Chorklang lässt sich unter solchen Bedingungen kaum erzeugen. „Es ist ein Behelf. Wenn das die Zukunft wäre, wäre das eine Katastrophe. Meine anderen Chöre werden den Weg nach draußen suchen“, sagt Nathen: „Wichtig ist, dass die Leute erst einmal wieder zusammen finden, dass man das Gefühl hat, der Chor existiert noch.“
Kreatives Querdenken ist gefragt
Unter diesen Bedingungen ist Querdenken gefragt, vor allem was die Suche nach Räumen betrifft. Für die Proben zur Night of Sounds mit dem Jungen Chor Eslohe, dem Frauenchor Aviva und dem Männerchor Gaudium weicht Nathen in den Zuschauersaal des Elspe-Festivals in Lennestadt aus. „Da kann man den großen Chor vom Platz her stellen und hat wegen der Überdachung einen wunderbaren Klang.“
Chorleiter müssen in „Chorona“-Zeiten mehr können, als die Einsätze zu geben. „Man fängt an, kreativ zu denken, wo geht was? Es muss immer nur einen Sinn machen: Dass man die Freude am Singen nicht verliert.“