Hagen. 50 neue Corona-Infizierte in sieben Tagen erscheint zunächst händelbar. Warum der neue Grenzwert die Kreise trotzdem schnell überfordern kann.
Das Land NRW wird sich schon einschalten und mögliche neue, lokal begrenzte Maßnahmen in den Landkreisen gegen die Ausbreitung des Coronavirus anordnen, bevor der neue Grenzwert von Neu-Infizierten erreicht ist. Das hat das Landes-Gesundheitsministeriums gegenüber der WESTFALENPOST bestätigt.
Wie berichtet, sieht die Vereinbarung zwischen Bund und Ländern vor, dass die neuen Lockerungen der Corona-Schutzmaßnahmen in einzelnen Kreisen oder kreisfreien Städten zurückgenommen oder neue Maßnahmen eingeleitet werden können, wenn es in den vergangenen sieben Tagen mehr als 50 neue Infektionen pro 100.000 Einwohner in dem einzelnen Kreis oder der kreisfreien Stadt gegeben hat. „Das Land stellt derzeit das Meldewesen und die Auswertung des Infektionsgeschehen so um, dass schon vor Erreichen diese Aktivierungswertes passgenaue Maßnahmen vor Ort diskutiert werden können“, sagt Axel Birkenkämper, der Sprecher des NRW-Gesundheitsministeriums, auf Anfrage.
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Er bestätigte auch generell die Sichtweise der Kreise unserer Region, dass sie mit ihren Gesundheitsämtern in erster Linie für die weitere Eindämmung des Coronavirus zuständig sind und auch neue Maßnahmen beziehungsweise die Rücknahme von Lockerung anordnen können. Allerdings behält sich das Land immer vor, auch direkt einzugreifen und das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen – wie aktuell im Kreis Coesfeld: „Das Land wird sich eng mit den örtlichen Behörden abstimmen und diese beraten, es kann aber auch immer Weisungen an die örtlichen Behörden erteilen.“
Kein Automatismus für neuen lokalen Lockdown
Einen Automatismus, welche Maßnahmen beim Erreichen der Obergrenze von 50 neuen Infektionen pro 100.000 Einwohner in den vergangenen sieben Tagen greifen werden, wird es nach Auskunft des Ministeriumssprechers nicht geben. Auch hier stützt er die bisherige Sichtweise der Kreise in der Region, die bis Freitag noch keinen genauen Maßnahmenkatalog des Landes erhalten hatten. Sie hatten gezielte, auf die konkrete Situation zugeschnitten Maßnahmen und keinen generellen neuen lokalen „Lockdown“ als richtig angesehen.
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So sieht es auch das Land. „Welche Maßnahmen im Einzelfall erforderlich sind, kann anhand des ganz aktuellen Infektionsgeschehen vor Ort entschieden werden“, sagt Axel Birkenkämper. „Es kommt darauf an, ob das Virus etwa begrenzt in Pflegeheimen oder Firmen auftritt oder ob es breit verteilt neue Infektionen gibt.“ Denkbar seien objektbezogene oder auch großflächige Untersuchungen, Betriebsschließungen oder lokale Verhaltensregeln. „In letzter Konsequenz aber auch die Schließung von Infrastruktur.“
Entscheidend: Genug Personal, um Infektionsketten zu verfolgen
Entscheidend bei allen Maßnahmen wird sein, ob bei neuen Infektionen die Infektionsketten schnell nachverfolgt werden und mögliche Kontaktpersonen umgehend kontaktiert und in Quarantäne geschickt werden können – so dass sie nicht weitere Menschen anstecken und so zu einer neuen Welle führen.
Das kann schnell zu einer Mammutaufgabe vor Ort werden. Hört sich die Zahl von 50 neuen Infektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen zunächst sehr niedrig an, so kann dies die Behörden vor Ort schnell an den Rand ihrer Kapazitäten bringen. Beispiel Kreis Siegen-Wittgenstein: Bei 280.000 Einwohnern würde dieser Wert bedeuten, dass binnen einer Woche 140 neue Infektionen plus Kontaktpersonen zu bearbeiten wären. Geht man im Schnitt davon aus, dass pro Infiziertem 5 bis 20 Kontaktpersonen ermittelt und kontaktiert werden müssen, kommt man auf Wert von 700 bis 2800 Menschen, die kontaktiert, in Quarantäne geschickt und kontrolliert werden müssen.
Expertenkritik: 50er-Grenzwert ist zu niedrig
Bislang sind alle Kreise und kreisfreien Städte im Regierungsbezirk Arnsberg von dem neuen Schwellenwert von 50 neuen Infektionen weit entfernt. Selbst der aktuell mit Abstand am stärksten betroffene Kreis Olpe liegt aktuell bei einem Wert von 20. Und bislang wäre die Obergrenze auch in den vergangenen Wochen, als das Virus noch eine viel größere Ausbreitung hatte, in keinem Kreis und in keiner kreisfreien Stadt der Region erreicht worden.
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Gerade deshalb wird aber auch Kritik an dem Grenzwert laut. Er sei viel zu hoch, sagen etwa Epidemiologen laut Süddeutscher Zeitung. Sie plädieren dafür, schon bei fünf neuen Infektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen neue Maßnahmen vor Ort in den Kreisen zu ergreifen. Von solch einem Grenzwert wären aktuell schon Hagen und Olpe betroffen. Das Bundeskanzleramt wiederum hatte zunächst 35 neue Infektionen als gerade noch handhabbaren Wert angesehen, konnte sich aber letztlich nicht durchsetzen. Von dieser Obergrenze wäre aktuell kein Kreis und keine kreisfreie Stadt im Regierungsbezirk betroffen.
Auch Bundeswehr kann zur Not eingesetzt werden
In allen Fällen gilt aber: Wichtig wird sein, ob genug Personal vor Ort vorhanden ist, um die Kontaktpersonen zu kontaktieren. Fünf solche so genannte Scouts pro 20.000 Einwohner sollen die Kreise und kreisfreien Städte daher vorhalten, die die Betroffenen immer wieder abtelefonieren, beraten und in Quarantäne schicken. Dieses Personal muss schnell aktiviert werden können, wenn die Infektionszahlen steigen.
„Von den 53 Gesundheitsämtern im Land haben insgesamt 48 gemeldet, dass sie selbst in der Lage sind, diesen Schlüssel zu erreichen“, sagt Ministeriumssprecher Birkenkämper. „Zwölf haben gemeldet, dass sie personelle Unterstützung benötigen.“ Für diesen personellen Mehrbedarf kann das Land eigenes Personal abordnen. Dafür gibt es auch Freiwillige. „Ergänzend können zeitweise aber auch Angehörige der Bundeswehr eingesetzt werden“, sagt der Ministeriumssprecher. Und darüber hinaus hat das Robert-Koch-Institut auch Scouts eingestellt, die betroffenen Kreise im Bedarfsfall anfordern können.