Wie sieht der Corona-Alltag von gebürtigen Westfalen an ihren neuen Wohnorten aus? Wir haben in den USA, in Norwegen und in Italien nachgefragt.
Hagen
Das Coronavirus hat weltweit den Alltag der Menschen durcheinander gewirbelt. Bei vielen spielt sich das private und berufliche Leben überwiegend in den eigenen vier Wänden ab. Wie ergeht es gebürtigen Westfalen in ihrer neuen Heimat? Wir haben nachgefragt.
Italien
Südtirol ist eine autonome Region in Italien. „Bisher haben wir in der Corona-Krise alles brav gemacht, was Rom vorgegeben hat“, sagt Katharina Trettl. Die zweifache Mutter (36) ist im Kreis Olpe aufgewachsen und lebt seit zwölf Jahren in Südtirol. „Doch jetzt gehen unsere Landespolitiker auf die Barrikaden, weil ihnen die geplanten Lockerungen nicht reichen.“ Man diskutiere über einen eigenen Weg.
Katharina Trettl hatte vor sechs Wochen dieser Zeitung über den Alltag in ihrem Land berichtet, dass neben Spanien in Europa am meisten durch das Coronavirus gebeutelt ist. „Es hat sich nicht viel verändert“, sagt sie. Wiewohl: Seit einer guten Woche dürfen Kinder auch außerhalb des elterlichen Grundstücks wieder an die frische Luft – täglich unter Aufsicht für eine Stunde. Und seit gestern gibt es weitere vorsichtige Lockerungen: Erlaubt sind wieder Sport im Freien und Besuche bei Verwandten in der Nähe.
Doch Italien ist weit entfernt von einem normalen Alltag. Diese Zeit verlangt insbesondere Familien viel ab. „Meine Kinder, 4 und 6 Jahre alt, halten bislang sehr gut durch“, sagt Katharina Trettl, die beiden hätten den Alltag mit Lernen vormittags und Spielen und Tiere versorgen im Garten nachmittags verinnerlicht. Aber: „Meine Große hat Ende Mai Geburtstag. Ihr wird täglich klarer, dass sie auch dann ihre Freundinnen nicht sehen kann. Die fehlen ihr, sie hat daran zu knabbern.“
Bis zum Ferienbeginn Mitte Juni öffnen die Schulen in Italien nicht mehr. „Es werden die Fragen lauter, wie Berufstätige die Zeit bis zum Start des neuen Schuljahres Anfang September die Kinderbetreuung stemmen können“, sagt Katharina Trettl. Zumal gestern 4,5 Millionen Beschäftigte an ihren Arbeitsplatz u.a. in der Auto-, Mode- und Möbelindustrie zurückgekehrt sind.
In den Sommerferien machen die Trettls üblicherweise zwei Wochen Urlaub im Sauerland. „Die Eltern und Großeltern fragen, wann sie uns endlich mal wieder sehen können.“ Keiner kann dies derzeit beantworten. „Manchmal denke ich“, sagt Katharina Trettl, „es ist alles nur ein böser Traum. Und morgen wache ich auf und alles ist gut.“
Norwegen
Wenn sie in ihrem Kajak entlang der Fjorde paddelt, nimmt sie die atemberaubende Natur noch intensiver wahr als üblich und atmet ganz tief durch. „In den Tagen der Ausgangsbeschränkungen ist das mein ganz persönliches Gefühl von Freiheit“, sagt Rebekka Borsch. Die 43-Jährige wuchs in Olpe auf und lebt seit 16 Jahren in Norwegen. Bis Ende Januar war sie Staatssekretärin im Bildungsministerium. Die Sehnsucht nach Meer sei derzeit bei vielen Landsleuten groß: „Es gibt keine Freizeitboote mehr zu kaufen.“
Rebekka Borsch hätte in diesen Tagen Besuch von ihren Eltern bekommen sollen. Stattdessen bleibt nur der Kontakt via Telefon oder Skype. Durch die Gespräche und die Lektüre deutscher Medien ist sie sehr gut informiert über die Lage in ihrer alten Heimat: „Die norwegische und die deutsche Gesellschaft sind sich sehr ähnlich.“ Und auch im Umgang mit den Vorschriften gebe es viele Parallelen: Auch die Norweger befolgten die Einschränkungen sehr diszipliniert, auch sie hätten anfangs Hamsterkäufe getätigt und zeigten sich solidarisch – auch wenn das Denunzieren von Regelbrechern zugenommen habe. Größer würden auch die Rufe nach Lockerungen: „Es macht sich ein gewisser Lagerkoller breit.“
Hier wie da befindet sich die Wirtschaft am Boden. „Als wohlhabendes Land waren die Arbeitslosenzahlen stets niedrig“, sagt Rebekka Borsch. „Ende Februar hatten wir nur 60.000 Arbeitslose. Jetzt sind es mehr als 450.000.“ Grund: „Norwegen ist ein großer Öl-Exporteur. Der weltweit kollabierte Ölpreis, zusammen mit der Corona-Krise, trifft unser Land hart.“ Arbeitsplatzverlust und Kurzarbeit sorgten dafür, so Rebekka Borsch, dass die Zahl der Haushalte mit finanziellen Problemen in der Corona-Krise stetig steige.
In den kommenden Wochen wird sich aus Sicht der gebürtigen Sauerländerin zeigen, wie groß das Durchhaltevermögen der Bürger ist. Zumal man sehr genau nach Schweden schaue. Dort gelten deutlich lockerere Maßnahmen als in vielen anderen Ländern.
USA
Als jetzt im US-Bundesstaat Michigan wütende und bewaffnete Demonstranten gegen die strengen Corona-Vorschriften protestierten, erhielt Friederike Sophie Lux besorgte Nachfragen von Freunden und Verwandten: „Wie geht es dir? Fühlst du dich noch sicher?“ Die 28-jährige Betriebswirtin, die in Breckerfeld aufwuchs und seit fünf Jahren in Detroit in der Automobilindustrie arbeitet, gab Entwarnung: „Ich fühle mich hier noch gut aufgehoben.“ Aber sie hat sich in der Krisenvorsorgeliste des Auswärtigen Amtes registriert. „Wenn sich die Lage hier verschärft und eine entsprechende Empfehlung von der Bundesregierung ausgesprochen wird, muss ich die USA wohl verlassen.“
Friederike Sophie Lux hat sich das Datum ihres vorerst letzten Bürotages gut merken können – es war Freitag, der 13. März. Seitdem arbeitet sie im Homeoffice. „Es ist eine verrückte Situation. Ich fühle mich ganz entspannt. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, in einer Blase zu leben. In der Nachbarschaft sieht normal aus. Aber es ist nicht normal, es ist eine merkwürdige Ruhe.“
Vor ihrer Haustür steht eine große Geranie. „Mehrere Nachbarn haben sich bei mir gemeldet und mir gesagt, dass sie sich über die Pflanze freuen. Vielleicht macht uns Corona empfänglicher für die kleinen Farbtupfer im Alltag.“
Sie hat von Nachbarschaftshilfen und andere ehrenamtliche Initiativen in Deutschland erfahren. „Die gibt es hier auch. Die Solidarität ist groß.“ Wäre da nicht ein Präsident, der in den Augen vieler zur Spaltung der Gesellschaft beiträgt. „Trump hat die bewaffneten Proteste gegen die Ausgangssperren in Michigan ausdrücklich gelobt.“
In dem „großartigsten Land der Welt“ (O-Ton Trump) fallen in der Krise noch mehr Menschen durch das soziale Netz. Vielen fehlen die Ersparnisse, um Gehaltsausfälle zu überbrücken. Ar- beitslosengeld wird nur für wenige Wochen gezahlt. Oft geht mit dem Verlust der Stelle auch der Wegfall der Krankenversicherung einher. Und dann sei da das „sehr profit-orientierte“ Gesundheitssystem. „Die Kosten für eine Behandlung sind deutlich höher als in vielen anderen Ländern. Also gehen die Leute nicht zum Arzt.“ Friederike Sophie Lux denkt an ihre Heimat. „In Deutschland“, sagt sie, „werden Menschen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten eher aufgefangen als in den USA.“