Siegen. Der Siegener Rapper Najib El-Chartouni hat die 7. Sinfonie von Beethoven erst spät entdeckt. Das Hörerlebnis traf ihn wie eine Offenbarung
Als Sohn einer libanesischen Familie bin ich in Siegen geboren und fühle mich der Stadt und der Region zutiefst verbunden. Durch meine Brüder war es vorgezeichnet, beim Rap zu landen. Klassische Musik hingegen spielte in meinen jungen Jahren keine Rolle – auch in der Schule nicht. Aber ich hatte ein riesiges „Aha“-Erlebnis. Nein: Zwei! Das erste traf mich wie eine Offenbarung, das zweite wie ein Erdbeben.
Mein väterlicher Freund Werner Hahn hatte mich mit dem Theater in Berührung gebracht. Mehrere Produktionen durfte ich im Theater Hagen und im Apollo-Theater Siegen mit ihm entwickeln. Tagaus, tagein arbeitete er wie eine Maschine: immer unter Volldampf. Eines Tages mussten wir aus beruflichen Gründen zu zweit ins Sauerland. Ich erwartete, er würde in gleichem Stil Auto fahren wie er inszenierte. Aber nein: Statt der A45 benutzte er Landstraßen, bei 70 km/h ging er vom Gaspedal – und aus dem CD-Player erklang Beethovens 7. Sinfonie. Unfassbar, was da bei mir abging. Die Musik öffnete mir völlig neue Welten. Sie schwang in vollendetem Einklang mit der hügeligen, saftig grünen Natur. Sie strahlte um die Wette mit der Sonne, die sich nach unzähligen trüben Winter-Tagen den Weg durch die Wolken bahnte. Und sie drang mit ihrem hellen Licht tief in meine Seelenräume ein. Der vierte Satz der Sinfonie war die absolute Erfüllung. Schon lange war ich nicht mehr von so einem tiefen Frieden erfüllt. Beethoven gehört seither zu meiner Play-List.
Als Moslem die Jesus-Worte sprechen
Das zweite „Aha“-Erlebnis, das Erdbeben, traf mich in der Wuppertaler Stadthalle. Mit dem weltberühmten Auryn-Quartett durften wir Joseph Haydns „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ zur Aufführung bringen. Wir jungen Darsteller sollten zwischen den einzelnen Sätzen Texte von Walter Jens interpretieren. Ich, der Moslem, hatte alle Jesus-Texte zu sprechen.
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Bis zur ersten Begegnung mit den Musikern hatte ich keine wirkliche Vorstellung, was ein Streichquartett ist. Okay, wir hatten uns während der Leseproben eine CD angehört. Aber ich empfand die Musik als sehr sperrig. Als aber bei der Probe – keine zwei Meter von mir entfernt – die vier Musiker zu spielen begannen, zog es mir plötzlich den Boden unter den Füßen weg. Ich begann am ganzen Körper zu zittern, Tränen kullerten mir aus den Augen und es fiel mir schwer, Halt und Orientierung zu finden. Einen derartig elementaren Einschlag in meinen Gefühlskosmos hatte ich noch nie erlebt.
Die Kraft der Musik entdeckt
Meine ganze Familie hat ein großes Verlangen, sich künstlerisch auszudrücken. Für mich war lange Zeit die Sprache ein ganz wichtiges Mittel. Nach und nach habe ich allerdings die Kraft der Musik entdeckt. Und heute ist sie mein wichtigstes Ventil. Wenn ich es recht bedenke, klingt es unaufhörlich in meinem Kopf. Und wenn die Musik dann heraus will, schalte ich alle überflüssigen Kanäle ab und erwarte voller Aufregung den Moment, wenn sie aus mir herauszuströmen beginnt. In guten Momenten fühlt es sich an, als würde heiße Lava aus mir heraus fließen.
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Als junger Mensch hatte ich wenig Selbstwertgefühl. In mir brodelte und gärte es. Ich war ein Hitzkopf und teilte sehr schnell aus. Seit ich Live-Musik mache, habe ich Mut und Selbstvertrauen gewonnen. Musik und Bühne sind mittlerweile zur unersetzlichen Nahrung geworden.
Gesellschaftliche Haltungen versöhnen
Als Student der Sozialpädagogik suche ich nach dem Kitt, der die immer extremer werdenden gesellschaftlichen Haltungen versöhnt und in Einklang bringt. Musik lässt falsche Grenzen schwinden und feste Brücken wachsen. Gibt es einen Winkel unserer Erde, wo Beethovens Musik nicht das gleiche Lachen und Strahlen auslöst wie bei mir? Eigenartig: In einem Jugendzentrum inszenieren mein Bruder und ich ein Musical. Natürlich gibt es Rapmusik. Aber mittlerweile auch Beethoven! Kein Witz! Und Jugendliche unterschiedlicher Religionen und kultureller Abstammungen kriegen Gänsehaut.
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Mehr Beethoven: wp.de/mein-beethoven
Der Rapper, Schauspieler und Sozialarbeiter Najib El-Chartouni (27) wurde in Siegen geboren. Im Lutz des Theaters Hagen stand er unter anderem in „Hallo Nazi“ auf der Bühne. Zudem wirkt er in dem interaktiven mobilen Stück „Hey Boss, ich will zu Dir“ mit. Im Apollo Siegen startete er seine Auftritte mit dem Projekt „Fahr deinen Film“. In der BlueBox Siegen leitet er mit seinem Bruder Mohamed die Musicalwerkstatt.