Ense. In den beiden Werken des westfälischen Traditionsunternehmens Kettler in Werl-Sönnern wurde die Produktion am Freitag eingestellt.
An sein Einstellungsgespräch kann sich Antonio Salerno noch gut erinnern. „Ich wurde gefragt, was ich kann“, sagt der 57-Jährige, „eine Bewerbungsmappe musste ich nicht vorlegen.“ Sein Gesprächspartner habe die Schwielen in seinen Händen gesehen und daraus geschlossen: „Der kann arbeiten.“ So begann vor 38 Jahren Salernos Berufsleben beim Sportgeräte- und Gartenmöbelhersteller Kettler. Es endet jetzt mit dem Aus für das Enser Traditionsunternehmen.
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Der Mittelständler mit seinem legendären Kettcar war ein Symbol für das deutsche Wirtschaftswunder. Nach drei Insolvenzen in vier Jahren wurde die Belegschaft im Oktober 2019 über das Ende informiert. Der überwiegende Teil der Beschäftigten in Ense und Werl wurde freigestellt, Antonio Salerno gehört zu den wenigen Mitarbeitern, die noch bei der Ausproduktion dabei sind. Soweit möglich werden letzte Aufträge fertiggestellt, die Firma abgewickelt.
Eltern kamen als Gastarbeiter nach Ense
Salerno hat sich mit dem Reporter in einem Bäckerei-Café verabredet. Auf einer Fensterbank stehen Exemplare des „Bestseller-Romans der Enser Autorin“ Lisa Keil, die im Laden veräußert werden. Titel: „Bleib doch, wo ich bin.“ Ein Liebesroman. Kettler bleibt nicht, wo es ist. Eine besondere Beziehung von Arbeitnehmern zu ihrem Arbeitgeber endet. „Es war mehr als ein normaler Arbeitsplatz“, sagt Antonio Salerno, „es war wie eine große Familie.“
Seine Eltern und Verwandte hatten aus Süditalien als Gastarbeiter den Weg nach Ense gefunden und in der Kettler-Produktion einen Job gefunden. Nach seiner Maurer-Lehre war Salernos Weg vorgegeben: „Es war normal in Familien, dass man zu Kettler ging.“ Aus dem Kreis Soest, aus dem Hochsauerland. Genauso normal, dass der Nachwuchs der Beschäftigten ein Kettcar fuhr.
Von der Haustür des 57-Jährigen sind es zehn Minuten zu Fuß bis zur Hauptverwaltung. Er war als Metallarbeiter beschäftigt, dann lange Zeit in der Mitarbeitervertretung – zuletzt als Gesamtbetriebsratschef. „Ich habe mit Kettler abgeschlossen“, sagt er, um im nächsten Moment von der „seelischen Grausamkeit“ der vergangenen Jahre und „dem Missmut in mir“ zu reden. Es war eine jahrelange emotionale Achterbahnfahrt mit der Sorge um den Arbeitsplatzverlust und um „mein“ Unternehmen. „Keiner in der Belegschaft hätte gedacht, dass es so ausgeht“, sagt er, „vielleicht auch, weil es keiner wahrhaben wollte.“
Zahlreiche Berater im Haus
Der Abschied auf Raten habe mit dem Tod von Firmengründer und Kettcar-Erfinder Heinz Kettler 2005 begonnen, sagt Salerno. „Er war ein großer Unternehmer mit einem großen Herz.“ Fortan sei keiner mehr an der Firmenspitze gewesen, der „rechtzeitig die Weichen für die Zukunft gestellt“ hätte. Wo Kettler einst für Innovationen stand, herrschte jetzt Stillstand. Zu lange lebte man offenbar von der Nostalgie einer Traditionsmarke. Viele Anwälte, Unternehmensberater und externe Manager versuchten sich als Sanierer. Dem Wirtschaftsmagazin Capital zufolge sei allein seit 2015 fast 20 Millionen Euro an Beratungsfirmen und Kanzleien geflossen. „Die Berater wussten alles besser“, sagt Salerno, „aber es wurde nicht besser.“
Als sich im Herbst 2018 die finanzielle Lage dramatisch zuspitzte, kam der Finanzinvestor „Lafayette Mittelstand Capital“ wie Phönix aus der Asche. Der neue Gesellschafter wollte 12 Millionen Euro in das Unternehmen pumpen, das Management träumte von glorreichen Zeiten. Auf Fachmessen präsentierte man sich mit einer Werbekampagne. Titel: „The Greatest Comeback Ever.“ Um die ausgestellten Sportgeräte prangten Namen von Sportlegenden, denen Comebacks gelungen waren: z.B. Muhammad Ali, Tiger Woods und Niki Lauda.
Antonio Salerno verdreht die Augen und trinkt einen weiteren Schluck seines Café Crema. Das Wirtschaftsmagazin Capital zitiert in seinem Bericht einen Insider: „Lafayette hat sich bei Kettler nie blicken lassen. Das Unternehmen dümpelte einfach vor sich hin.“ Lafayette dementierte stets ein halbherziges Engagement.
Markenrechte zum Teil veräußert
Wie war die Rolle des einstigen Hoffnungsträgers? Antonio Salerno möchte sich am liebsten nicht dazu äußern. „Es hat einen faden Beigeschmack“, sagt er dann doch. Der Finanzinvestor hatte bei der Übernahme die Markenrechte an Kettler erworben und hat sie jetzt zum Teil veräußert. „Manche Kollegen sagen, dass die trotz der Insolvenz wohl nicht ins Minus gegangen sind“, so Salerno. „Wieder einmal zahlen Kolleginnen und Kollegen den Preis für jahrelanges Missmanagement der verantwortlichen Führungsebenen“, sagt Dirk Tscherning, Gewerkschaftssekretär bei der IG Metall Hamm-Lippstadt. Alfons Eilers, heute im Ruhestand und einst für die IG Metall bei Kettler zuständig, zieht den Hut vor den Arbeitnehmern: „Obwohl sie eine jahrelange Hängepartie erlebt haben, war die Solidarität untereinander riesengroß.“
156 Beschäftigte haben beim Arbeitsgericht Hamm Kündigungsschutzklagen eingereicht. Salerno gehört nicht zu ihnen. „Wenn man so lange gelitten hat unter der Unsicherheit, wie es mit der Firma weitergeht, dann muss man sich das nicht mehr antun“, sagt er. Es gäbe Kollegen, die noch eine Rest-Hoffnung haben, dass es durch eine Veräußerung von Betriebsteilen irgendwie weitergehen könnte. „Dafür gibt es keine Anzeichen“, sagt Salerno, „das Ding ist ausgelutscht.“
Der Düsseldorfer Rechtsanwalt Georg Kreplin, Insolvenzverwalter für die Kettler Freizeit GmbH, bestätigte auch im Namen seines Kollegen Marco Kuhlmann (Kettler Plastics GmbH), dass am Freitag die Produktion in den beiden Werken in Werl-Sönnern eingestellt wurde. „Neben der Verwertung der Maschinen und Einrichtungen werden hier lediglich noch Restmontagen stattfinden, die im Zuge der Ausproduktion nich rechtzeitig zu Ende gebracht werden konnten.“ Am Standort Werl, Zur Mersch, werde die Ausproduktion wohl noch etwas andauern, „da noch ein bestätigter Kundenauftrag zu erfüllen ist“, so Kreplin. Dieser habe „aufgrund unvorhergesehener Verzögerungen“ nicht termingerecht fertiggestellt werden können. Der Produktionsstandort werde jedoch auch zeitnah geschlossen.
Nach Aussage von Insolvenzverwalter Kreplin bleibt für die gekündigten Mitarbeiter „eine weitere Beschäftigung bei Kettler oder ähnlichem faktisch und praktisch ausgeschlossen“. Der Anwalt bezeichnete die zahlreichen Kündigungsschutzklagen als „eher unverständlich“: „Durch die Prozesskosten wird nun die Masse lediglich aufgezehrt, die eigentlich zur Befriedigung der restlichen Forderungen der Arbeitnehmer hätte dienen sollen.“
Fachkräfte gefragt
„Eine traurige Nachricht für eine ganze Region“, sagt Rechtsanwältin Christine Burg, „Kettler war ein Aushängeschild.“ Sie vertritt gekündigte Beschäftigte vor dem Arbeitsgericht: „Für sie ist es eine emotionale Zäsur. Sie bleiben in Ense und der Umgebung wohnen, treffen beim Einkauf oder anderen Gelegenheiten auf ehemalige Kollegen. Sie können sich der Situation nicht entziehen.“
Viele haben mittlerweile einen neuen Arbeitsplatz gefunden, weiß IG-Metall-Mann Tscherning. Auch für die anderen hat er Hoffnung: „Qualifizierte Fachkräfte sind auf dem Arbeitsmarkt noch immer gefragt.“ Antonio Salerno hat Bewerbungen laufen. Schriftlich. Mit Mappe. Die Zeiten haben sich geändert. Die Uhr läuft ab für Kettler. Die „wenigen Menschen“, die noch bei der Ausproduktion dabei sind, räumen Schränke und Regale aus oder fegen Hallen. Ein Kehraus im wahrsten Sinne des Wortes. Und der letzte macht das Licht aus.
Hintergrund: Die KHG Home & Garden GmbH mit Hauptsitz im schleswig-holsteinischen Glinde hat die Kettler-Markenrechte für „Gartenmöbel und Artikel rund um den Gartenbereich“ gesichert. Hinter der im vergangenen November gegründeten Firma soll nach Medienberichten die chinesische Activa-Gruppe stehen – ein langjähriger Geschäftspartner von Kettler.
Das Unternehmen Trisport aus der schweizerischen Gemeinde Hünenberg (Kanton Zug) hat bei der Kettler Holding GmbH die Kettler-Markenrechte für Sport- und Fitnessgeräte in Europa erworben. Man werde sich auf die Bereiche Hometrainer, Ergometer, Crosstrainer, Laufbänder, Rudergeräte und Kraftstationen fokussieren, hieß es.
Bereits im Dezember 2015 hatte das Enser Traditionsunternehmen die Fahrradsparte an die ZEG (Zweirad-Einkaufs-Genossenschaft eG) verkauft. Die Kettler Alu-Rad GmbH hat seitdem ihren Sitz in Köln. Im Fahrradwerk im saarländischen Hanweiler werden weiterhin Alu-Fahrräder unter dem Namen Kettler produziert.