Düsseldorf. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident im Exklusiv-Interview über die Zukunft des ländlichen Raumes. Der Politiker fordert Wertschätzung.
Das Leben spielt sich nicht nur in den Städten ab – auch wenn in Berlin, Brüssel und Düsseldorf die meisten Entscheidungen getroffen werden. Wir haben mit NRW-Ministerpräsident Armin Laschet über die Zukunft des ländlichen Raums gesprochen.
Die Ruhrkonferenz kümmert sich um die Probleme des Ruhrgebietes. Brauchen wir bald auch eine Landkonferenz?
Armin Laschet: Nein. Die Ruhr-Konferenz ist eine strukturelle Antwort auf den Ausstieg aus der Steinkohle. Die Region hat vielerorts bereits seit langem mit großen Herausforderungen zu kämpfen, ob bei der Arbeitslosigkeit, beim Wirtschaftswachstum oder bei der Inneren Sicherheit. Da haben sich viele Probleme angehäuft, denen sich die Ruhr-Konferenz jetzt widmet, um das Ruhrgebiet zu einer wirtschaftlich starken und lebenswerten Zukunftsregion zu machen.
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Der ländliche Raum in Nordrhein-Westfalen ist in weiten Teilen wirtschaftlich gut aufgestellt, und in einigen Teilen erreichen wir praktisch Vollbeschäftigung. Zwar ist die Arbeitslosigkeit zum Beispiel in Südwestfalen oder Ostwestfalen zuletzt etwas gestiegen, aber diese Regionen mit innovativen Familienunternehmen, die oft Weltmarktführer sind, sind so stark, dass sie Absatzprobleme besser auffangen können. Natürlich werden wir auch hier diese Regionen weiter im Blick behalten. Es gibt dort jedoch andere Herausforderungen, zum Beispiel den öffentlichen Personennahverkehr und die digitale Infrastruktur. Daran arbeiten wir, aber dafür brauchen wir keine Konferenz wie für das Ruhrgebiet.
Vielen Kommunen macht der demografische Wandel Angst. Sie haben Angst davor auszubluten.
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Wir unternehmen alles, um das zu verhindern und den ländlichen Raum attraktiver zu machen. Alle Menschen in unserem Land, ob in den Städten oder im ländlichen Raum, sollen die Bedingungen und Möglichkeiten haben, um ein gutes Leben zu führen. Dazu gehört auch eine hochwertige medizinische Versorgung. Gesundheitsminister Laumann richtet seine Politik zum Beispiel besonders darauf aus, die Versorgung mit Ärzten im ländlichen Raum abzusichern. Deshalb haben wir die Landarztquote eingeführt, um die uns andere Länder beneiden. Zudem hat die Landesregierung jetzt die wohl größte Reform der nordrhein-westfälischen Krankenhauslandschaft seit Jahrzehnten angestoßen, um überall im Land zu effizienten Strukturen und einer hochwertigen Versorgung im stationären Bereich zu kommen. Um den Breitbandausbau voranzutreiben, hat Wirtschaftsminister Pinkwart mit den Netzbetreibern Pakte darüber geschlossen, wie die weißen Flecken beim Mobilfunk beseitigt werden können. In der Vergangenheit stand immer weniger Geld für den öffentlichen Personennahverkehr zur Verfügung. Dies haben wir geändert. Das Land investiert jetzt mehr als zuvor und davon profitiert natürlich auch der ländliche Raum. Im Rahmen unserer ÖPNV-Offensive, die wir Anfang Dezember 2019 vorgestellt haben, werden wir zum Beispiel verstärkt regionale Schnellbusverkehre fördern. Diese sind überall dort eine ideale Ergänzung des Schienenpersonennahverkehrs, wo Eisenbahninfrastrukturen nicht oder nicht mehr bestehen. Insgesamt erhöhen wir die SPNV-Pauschale zur Förderung regionaler Schnellbusse bis 2032 um 100 Millionen Euro.
Sie haben in Ihrer Neujahrsansprache vor einem Konflikt Stadt gegen Land gewarnt. Woran machen Sie diesen fest?
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Wir brauchen eine neue Fairness gegenüber dem ländlichen Raum, eine Fairness, die Unterschiedlichkeiten anerkennt und wertschätzt. Unsere Debatten sind großstadtgeprägt, zum Beispiel: Abschied vom Auto, Umstieg auf den öffentlichen Nahverkehr. Das kann man in Köln machen, dort fahren U- und S-Bahn. Auf dem Land ist das keine Alternative. Dort kommen die meisten Bürger nicht am Auto vorbei. Für Millionen Menschen in Nordrhein-Westfalen, die im ländlichen Raum leben, sichert das Auto Mobilität: auf dem Weg zur Arbeit, zur Familie, zum Arzt oder zum Einkaufen. Wir dürfen nicht in der Art moralisieren, dass wir die städtische Lebensform als die einzig richtige darstellen. Viele Menschen im ländlichen Raum müssen in größere Städte pendeln, um zu ihrem Arbeitsplatz zu kommen. Das muss anerkannt werden. Deshalb ist eine Pendlerpauschale keine Subvention, sondern gewährleistet, dass die Menschen auch außerhalb der Städte leben können, ohne Nachteile zu erleiden. Wir können doch nicht wollen, dass alle in die Zentren ziehen, wo die Wohnungsmärkte eh schon überhitzt sind.
Es gibt Prognosen, die in manchen Gegenden Südwestfalens bis zum Jahr 2040 einen Bevölkerungsrückgang um über 30 Prozent vorhersagen. Haben einige Dörfer vielleicht keine Zukunft mehr?
Das ist kein Thema in Nordrhein-Westfalen. Ich bin sehr skeptisch bei all diesen Langzeitprognosen. Vor 10, 15 Jahren hieß es noch, wir haben bald zu viele Kindergärten und zu viele Schulen. Das Gegenteil ist jetzt der Fall. In Nordrhein-Westfalen gibt es keinen einzigen Flecken, den Sie zurückbauen müssen. Der ländliche Raum ist der starke Industriemotor und die ländlichen Regionen in Südwestfalen, in Ostwestfalen-Lippe und im Münsterland sind innovativ und haben inzwischen längst die gleiche wirtschaftliche Kraft wie städtische Regionen etwa im Ruhrgebiet.
Steht das Land in der Pflicht, in die Lebensqualität zu investieren, auch wenn damit kurzfristig kein wirtschaftlicher Erfolg erzielt wird?
Selbstverständlich, das ist eine Frage der Daseinsvorsorge und die Landesregierung handelt ja auch so. Bei der Gemeindefinanzierung haben wir übrigens seit Regierungsantritt besonders auch auf das Wohl des ländlichen Raumes geachtet.
Das gilt auch für 5G?
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Ja, daran arbeiten wir: Wir brauchen 5G an jeder Milchkanne, auch wenn dieses Bild abgegriffen ist. 5G muss kommen, überall in Nordrhein-Westfalen. Und natürlich auch in Industriegebieten auf dem Land. Deshalb hat die Landesregierung im Dezember die neue 5G-Mobilfunkstrategie verabschiedet. Für innovative Projekte wie Campusnetze stellt das Land bis zu 90 Millionen Euro bereit. Das ist vor allem für die starke mittelständische Wirtschaft in unseren ländlichen Regionen interessant, sie kann dadurch über eigene 5G-Campusnetze auf ihrem Gelände die Produktion noch effizienter steuern.
Und wenn die Netzbetreiber sagen: Das rechnet sich für uns nicht.
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Es steht außer Frage, dass schnelles Mobilfunknetz flächendeckend notwendig ist, damit sich alle Regionen in unserem Land wirtschaftlich gut entwickeln können und attraktiv für dort lebende Menschen bleiben. 5G ist eine Schlüsseltechnologie und gehört zur Grundversorgung, schließlich wollen wir ein digitales Land sein.
Und wer zahlt?
Der Staat. Wo der Markt beim Breitbandausbau die Lücken nicht schließt, müssen wir ergänzend eingreifen.
Die Innenstädte und die Dorfzentren fürchten, ihre Anziehungskraft zu verlieren, weil der stationäre Einzelhandel immer größere Probleme hat. Wie können Sie helfen?
Das ist kein spezifisches Problem des ländlichen Raumes, davon sind auch die größeren Städte betroffen. Wenn jeder glaubt, dass er seine Güter nur noch im Internet bestellen sollte, dann leidet natürlich darunter der klassische Einzelhandel. Jeder Einzelne sollte sich seiner Verantwortung bewusst sein. Abgesehen davon müssen die Kommunen vor Ort Antworten finden; wir kümmern uns um die Rahmenbedingungen, zum Beispiel auch, indem wir die bürokratischen Auflagen für Handwerksbetriebe reduzieren.
Ist mehr kommunale Zusammenarbeit eine Lösung des Problems?
Auf jeden Fall. Und sie ist noch ausbaufähig. Wir setzen Anreize, damit sich eine Kooperation lohnt. Das Problem des Kirchturmdenkens betrifft aber nicht den ländlichen Raum allein. Wir brauchen insgesamt mehr regionalen Konsens.
Südwestfalen bietet freie Ausbildungsplätze, im Ruhrgebiet leben viele arbeitslose Jugendliche. Blöd, oder?
Natürlich kann es sein, dass man für einen Ausbildungsplatz man auch mal Wege in Kauf nehmen muss. Viele wissen ja gar nicht, welche Schönheit und welches Potential es in den ländlichen Regionen gibt. Mit unserem Azubi-Ticket, das seit Mitte 2019 gilt, wollen wir die Jugendlichen mobiler machen. Jetzt lohnt es sich für die Betriebe auf dem Land noch mehr, in einem größeren Radius für die Ausbildungsstelle zu werben und die Ausbildung auch hier attraktiver zu machen.
Machen Sie doch mal Werbung für den ländlichen Raum, damit die jungen Leute nicht flüchten.
Jeder sollte sich bewusst machen, dass die Lebensqualität auf dem Land sehr hoch ist. Es gibt gute Arbeitsplätze, man lebt im Grünen und doch nah an Ballungszentren, steht weniger im Stau, die Wohnungsmärkte sind weniger überhitzt, Schulen bieten den Kindern oftmals sehr gute Bedingungen. Es gibt in den ländlichen Regionen für junge Menschen sehr gute Perspektiven. Das finde ich stark.
Der Bürgermeister von Kamp-Lintfort hat einen Waffenschein beantragt, weil er sich bedroht fühlt. Wie sehr besorgt es Sie, dass Kommunalpolitiker Angst haben?
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Die Bedrohungen von Kommunalpolitikern nehmen zu. Wir haben im vergangenen Jahr erlebt, dass es zum ersten Mal einen rechtsextremen Mordanschlag auf einen Regierungspräsidenten gegeben hat. Der Mord an Walter Lübcke erschüttert mich noch immer. Wir leben in Zeiten, in denen sich die Demokratie mehr denn je verteidigen muss, und das mit aller Entschlossenheit.
Konkret: Brauchen Kommunalpolitiker mehr Schutz?
Wir erleben leider Bedrohungen von Mitarbeitern in Ämtern, es gibt Bedrohungen von Gerichtsvollziehern. Und es gibt politisch motivierte Bedrohungen gegen kommunal aktive Bürger. In Nordrhein-Westfalen ist das bisher auf Einzelfälle beschränkt, in Ostdeutschland stellt sich das Problem ausgeprägter. Unsere Behörden nehmen jede Bedrohung sehr ernst. Nötig ist eine individuelle Lösung für jeden einzelnen Fall. Insgesamt brauchen wir aber ein Klima von mehr Respekt gegenüber Amtsträgern und allen anderen, die sich für das Gemeinwohl einsetzen.
Ein Waffenschein ist also in diesem Fall nicht das richtige Mittel?
Wenn ein Bürgermeister, der sich jeden Tag für unsere Demokratie engagiert, deswegen bedroht fühlt, ist das ein alarmierendes Zeichen. Aus meiner Sicht kann der Waffenschein keine generelle Lösung sein, um einen Bürgermeister zu schützen. Wenn Bedrohungen gegen Personen da sind, müssen unsere staatlichen Institutionen alles tun, um die Personen zu schützen. Und das tun wir auch. Wenn es Anhaltspunkte für Gefährdungen gibt, werden alle nötigen Maßnahmen ergriffen.