Werl. Sakineh Ahmadi aus Werl und ihre Kinder sterben beim Flugzeugabsturz im Iran. Ihr Bruder und ihr Lebensgefährte trauern um eine besondere Frau.

Als das Familienfoto entsteht, weiß Sakineh nicht, dass es das letzte sein wird. Das letzte Mal, dass alle zusammen sind. Sakineh hat für dieses Bild gekämpft. „Man weiß ja nie, was passiert“, sagt sie, als sie zusammenrücken und sich liebevoll arrangieren für das Foto. Familie. Sakineh Ahmadis Familie. Vereint im Iran. Sie ist über Weihnachten mit ihrem älteren Bruder (36) aus Werl angereist. Drei Tage später ist die 30-Jährige tot.

Sie wollte Vorbild sein für ihre Kinder

Sie nimmt zusammen mit ihrer kleinen Tochter (8) und ihrem kleinen Sohn (5) den Flug PS752 von Teheran über die Ukraine nach Düsseldorf. Doch der kommt nie an. Kurz nach dem Start wird die Boeing 737-800 von der iranischen Flugabwehr abgeschossen. 176 Menschen finden den Tod, viele von ihnen sind Iraner. 19 Kinder sterben, das jüngste Opfer ist anderthalb Jahre alt. Die Wrackteile landen im Gebiet von Shahedshahr. Es ist der Ort, an dem das Leben von Sakineh Ahmadi endet. Das Leben einer Frau, die so zuversichtlich lächeln konnte. Eine Frau, die aber auch schon Todesängste ausstehen musste, um leben zu können, wie sie es wollte: frei, selbstbewusst, selbstständig. Die Vorbild sein wollte – vor allem für ihre Kinder.

Hossein, ihr Bruder, sitzt auf dem Sofa seiner Schwester in ihrer Werler Wohnung. Neben ihm der Mann, den sie liebte. Ihr Lebensgefährte Mahadi Alizada (36), den sie 2015 kennenlernte und mit dem sie nach Werl zog. Hossein zeigt das Familienfoto aus Teheran auf seinem Handy. Tränen steigen in ihm auf, wenn er es ansieht. Auf einem Schrank haben sie Bilder von Sakineh aufgebaut, die im flackernden Licht einiger Teelichter stehen. Die Kinder lachen dem Betrachter aus den schwarzen und weißen Rahmen entgegen. Hosseins Gedanken sind ganz bei seiner Schwester. Er lebt noch, weil er einen früheren Rückflug nahm als seine Schwester Sakineh, die in einer Arztpraxis in Werl eine Ausbildung macht.

Familie flieht aus Afghanistan

Die Familie stammt aus Afghanistan, die Eltern flohen schon vor langer Zeit in den Iran. Hossein und Sakineh werden dort geboren, wachsen dort auf. Aber zu Hause sind sie dort nicht. „Wir waren Flüchtlinge“, sagt Hossein. Was er damit meint, sagt er auch: Menschen, die nicht frei sind in ihren Entscheidungen. Eine Universität hätte er besuchen wollen, aber „Leute wie wir dürfen nur wenig angesehene Berufe ergreifen“. SIM-Karten fürs Handy hätten stets iranische Bürger für sie besorgen müssen.

Gemeinsame Trauer: Sakinehs Bruder Hossein Khavari (links) und ihr Lebensgefährte Mahadi Alizada erzählen die Geschichte einer besonderen Frau.
Gemeinsame Trauer: Sakinehs Bruder Hossein Khavari (links) und ihr Lebensgefährte Mahadi Alizada erzählen die Geschichte einer besonderen Frau. © Thomas Nitsche

Als Frau ist das Leben im Iran noch schwieriger. Eine Ausbildung wird Sakineh untersagt. Sie gibt, erzählt Hossein, afghanischen Kindern, die nicht zur Schule gehen, Unterricht. „Die Kinder sind unschuldig. Sie brauchen eine Zukunft“, habe sie gesagt.

Den Plan, nach Europa zu fliehen, hatten sie schon immer im Kopf. Als sie ihn im Sommer 2013 in die Tat umsetzt, weiß er erst nichts davon. „

Wo bist du?“, fragt er ins Telefon.

„Unterwegs in die Türkei.“

„Warte“, fleht er.

Sie wartet. Sie lassen alles zurück. Ein neues Leben. Auf der Flucht hat er Kontakt zu seiner Mutter. Sie hat Verständnis für die Entscheidung ihrer Kinder. Unter einer Bedingung: Lass nur nie deine Schwester allein, sagt sie ihm. „Das musste ich ihr versprechen.“ Er weint. Er fühlt sich schuldig, weil er sein Versprechen gebrochen hat. Weil er sie allein fliegen ließ. „Ich will sie nur einmal wiedersehen“, sagt er. Sie und die Kinder noch einmal in den Arm nehmen. Und seine Schwester bitten, dass sie ihm vergeben möge.

Aus dem Iran flüchten sie Richtung Türkei. Istanbul erreichen sie innerhalb von zwei Tagen und besteigen dort ein Schiff. 60 Leute würden darauf passen, mehr als doppelt so viele Menschen seien an Bord gewesen, erinnert sich Hossein. Sieben Tage, sieben Nächte auf dem Wasser, kaum etwas zu essen.

Mit einjährigem Kind auf der Flucht

Sakineh hat ihr erstes Kind auf dem Arm, gerade mal ein Jahr alt ist es damals. Wasser schwappt ins Boot hinein. „Wir haben gedacht, dass wir auf dem Wasser sterben“, erinnert sich Hossein. Irgendwann gehe das vorbei, habe sie auf der Flucht immer gesagt. Dann würden sie ihrem Traum näher sein. In Europa, sagt sie, seien alle Menschen gleich. „Ich will der Welt zeigen, wie die Frauen aus Afghanistan aussehen“, habe sie gesagt.

Über Sizilien, Rom und Paris erreichen sie am 7. Oktober 2013 Frankfurt. Sakineh wird nach Eppingen bei Heilbronn gebracht, freundet sich mit den Nachbarn an, lernt mit ihnen Deutsch, besucht ein Café, das als offener Begegnungsort dient. Das berichtet nach dem Abschuss der ukrainischen Passagiermaschine die Heilbronner Stimme. „Überall, wo Sakineh Ahmadi auftrat, nahm sie durch ihre Herzlichkeit die Menschen für sich ein“, zitiert das Portal der Zeitung eine langjährige Weggefährtin aus dem Asylarbeitskreis.

Nach der Geburt ihres zweiten Kindes lernt sie ihren Lebensgefährten kennen. Im Januar 2017 gehen sie zusammen nach Werl. Er schickte ihr am Abend vor dem Absturz einen Videoclip mit einem Liebeslied. „Ich wollte ihr sagen, wie sehr ich sie liebe“, sagt Mahadi Alizada . „Ich habe so viel von ihr gelernt, sie hat mir und allen anderen immer geholfen. Sie war wie Robin Hood.“

Engagiert in Werler Initiative

Sakineh ist anerkannte Asylbewerberin, macht in Deutschland den Führerschein, sucht sich ein Praktikum, beginnt eine Ausbildung. Franz Fischer erinnert sich, wie sie kurz nach ihrer Ankunft in Werl im Januar 2017 vor ihm stand. Fischer ist Mitinitiator des „Gartens der Kulturen“, einem Integrationsprojekt in Werl. Auf einer alten Obstwiese, die die Stadt zur Verfügung stellt, pflanzen Werler aus aller Welt Gemüse an. Eine Begegnungsstätte. Dort tauscht man sich aus, hilft einander.

„Wenn Sakineh da war, war Leben im Garten“, sagt Sabina Grund, die sich ebenfalls im Garten engagiert. „Sie hat für uns die Brücke zu vielen anderen afghanischen Frauen geschlagen. Sie hat ihnen gesagt, dass sie eine Ausbildung machen müssen, dass sie viele Chancen haben, die sie nur ergreifen müssen.“

Sakineh übersetze, beriet andere, engagierte sich bei der Caritas. Zeit für sich, sagt ihr Bruder, fand sie kaum, weil sie sich gern um andere kümmerte. Bruderherz, habe sie zu ihm gesagt, mach dir keine Sorgen. „Ich weiß, wie es ist, neu irgendwo zu sein, auf Hilfe angewiesen zu sein. Deswegen mache ich das gern.“

„Sie hat immer an die anderen gedacht“

Die gemeinsame Zeit mit der Familie über Weihnachten im Iran genießt sie. Sie verbringt viel Zeit mit den Eltern, alle sitzen abends zusammen beim Essen. Tagsüber ist sie unterwegs. Sie kauft Gardinen. Für ihr Zuhause, sagt sie ihrem Bruder.

Zuhause, das ist Werl für sie. Wallfahrtsstadt, 30.000 Einwohner. Ihre Wohnung liegt unweit der Innenstadt, wo es ein Waffelstübchen gibt, das Altstadt-Café und das Döner-Werk. Provinz würden manche sagen. Perfekt, würde Sakineh Ahmadi sagen. Sie ist im zweiten Lehrjahr, träumt von einer Festanstellung in der Praxis. Sie habe im Iran nicht nur Gardinen für sich gekauft, sondern auch für Freunde und Bekannte in Werl. Viel mehr als es klug gewesen wäre. „Sie hat immer an die anderen gedacht, immer“, sagt ihr Bruder.

Flugzeug versehentlich abgeschossen

Die Sache mit dem Iran und den USA eskaliert schnell. „Wir hatten deswegen überlegt, ob wir länger bleiben sollen“, sagt Hossein. Der iranische General war da schon von den USA getötet worden. Doch seine Schwester besteht darauf, dass die Kinder in Werl in die Schule und in den Kindergarten müssten und dass sie selbst arbeiten müsse. Am Tag der Abreise telefoniert Sakineh noch mit ihrem Lebensgefährten. Er möchte wissen, was sie sich zu essen wünscht, er würde für sie kochen. Sie sagt, dass das nicht nötig sei. Sie brächte etwas mit aus dem Iran.

Sie steigt in den Flieger. Nach der Zwischenlandung in der Ukraine will sie sich bei ihrer Familie melden. Doch dazu kommt es nie. Eine Rakete zertrümmert das Flugzeug kurz nach dem Start. Anfangs streitet der Iran eine Beteiligung noch ab. Später muss das Regime unter öffentlichem Druck einräumen, dass die Maschine versehentlich abgeschossen wurde. Bis heute, sagt Hossein, habe sich niemand bei seiner Familie gemeldet. Kein Wort des Bedauerns.

„Das ist der Unterschied zwischen hier und dort“, sagt er. Es ist ihm wichtig herauszustellen, wie dankbar er ist für die Unterstützung durch die Menschen in Werl, durch den Garten der Kulturen, durch die Schule der Großen, den Kindergarten des Kleinen, die Berufsschule in Soest, wo sie Schülerin war. Dankbar ist Hussein auch Bürgermeister Michael Grossmann, der die 30-Jährige als „selbstbewusste und sympathische Frau“ beschreibt. Sie half manchmal bei Übersetzungen im Rathaus.

In Teheran beigesetzt

Plötzlich, einfach so, gerät sie in die feindlichen Linien zwischen dem Iran und den USA. Sie, die Menschen zusammenbringen wollte, wird zusammen mit ihren Kindern in den Tod geschickt. Im Iran gehen die Menschen wegen des barbarischen Akts auf die Straßen. Sakineh Ahmadi ist ihm zu Opfer gefallen, in Teheran, weitab ihres Zuhauses in Werl, wird sie beigesetzt. „Wir haben drei geliebte Menschen verloren. Die Schuldigen müssen bestraft werden“, sagt Hossein. Mehr will er nicht sagen. Mehr darf er vielleicht auch nicht sagen, ohne leichtsinnig zu sein.

Er hat eine Wohnung in Werl, eine Freundin, er macht eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker, drittes Lehrjahr. Wie er die Sache zu Ende bringen soll, weiß er gerade nicht. „Ich weiß nur, dass ich es schaffen muss. Allein schon für Sakineh.“ Sie hätte das so gewollt.