Hagen. Hartmut Kaczmarek zog nach der Wende aus Westfalen nach Thüringen, Steffen Rinkefeil reiste aus der DDR aus. 30 Jahre später blicken sie zurück.
Der eine verließ kurz nach dem Mauerfall seine sauerländische Heimat und schlug seine Zelte in Thüringen auf, der andere hatte ein halbes Jahr vor dem historischen Datum Sachsen den Rücken gekehrt und im Sauerland ein neues Lebenskapitel aufgeschlagen: Hartmut Kaczmarek (64) und Steffen Rinkefeil (50) sind auf entgegengesetzten Routen unterwegs gewesen: der eine vom Westen in den Osten, der andere vom Osten in den Westen.
Warum sind Sie in den anderen Teil Deutschlands gezogen?
Hartmut Kaczmarek: Es war eine Mischung aus journalistischer Neugier, privater Verbundenheit mit Thüringen und dem Wunsch, diese historische Zeit nicht aus der Ferne beobachten zu müssen, sondern vor Ort erleben und mitgestalten zu dürfen. Mein Vater stammte aus Thüringen, ich war dort immer wieder bei Freunden und Verwandten zu Besuch, nach der Maueröffnung habe ich aus Thüringen für die Westfalenpost über die Wendezeit berichtet. Schon im Dezember 1989 wurde die erste deutsch-deutsche Zeitungspartnerschaft zwischen der Westfalenpost und der Thüringischen Landeszeitung (TLZ) aus der Taufe gehoben. Da war es nur ein logischer Schritt, dass ich Ende 1991 endgültig in die TLZ-Chefredaktion gewechselt bin.
Steffen Rinkefeil: Es waren in erster Linie private Gründe. Meine Großmutter war 1979 nach Westdeutschland gezogen und später erkrankt. Meine Eltern und ich wollten uns um sie kümmern, aber alle Besuchsanträge wurden abgelehnt. Im Oktober 1985 haben wir dann einen offiziellen Ausreiseantrag gestellt. Wir konnten ja nicht ahnen, dass in absehbarer Zeit die Mauer fallen würde. Ich kann nicht leugnen, dass auch eine gewisse Unzufriedenheit mit dem DDR-Regime eine Rolle gespielt hat. Wenn es keine Meinungsfreiheit gibt und Sie ständig aufpassen müssen, was Sie wem sagen, beeinträchtigt das Ihr Leben schon massiv. Und wenn Ihr Staat Sie wegen Republikflucht in Gefängnis sperrt – wie bei meiner Tante und meinem Onkel geschehen –, sagt das viel über das System aus.
Welche Erwartungen, Hoffnungen und Zweifel hatten Sie?
Hartmut Kaczmarek: Als Journalist wollte ich nah dran sein an dem Geschehen. Und vielleicht konnte ich ja mit meinen Erfahrungen den Menschen in dieser Umbruchzeit mit Rat und Tat zur Seite stehen. Aber eins war für mich auch klar: Ich wollte auf keinen Fall einer jener Westdeutschen sein, die von montags bis donnerstags im Osten waren und dann ihr Wochenende wieder im Westen verbrachten. Das war die richtige Entscheidung: So konnte ich mich gut integrieren, fand schnell neue Freunde und habe auch verstanden, warum die Ostdeutschen in jenen Tagen jeden Westdeutschen zunächst einmal sehr skeptisch beäugten. Denn es gab genug Geschäftemacher, die Ramsch und teure Versicherungen verkauften, um sich dann abends an der Hotelbar händereibend über die naiven Ostdeutschen lustig zu machen.
Steffen Rinkefeil: Als unser Zug am 11. Mai 1989 um 4.05 Uhr in den Bahnhof im hessischen Bebra einfuhr und wir von unseren Freunden aus dem Leipziger Tanzsportverein empfangen wurden – sie waren ein Jahr vor uns ausgereist und lebten nun in Menden – herrschte riesige Freude. Zumal wir kurz darauf meine Großmutter wiedersehen würden. Wir spürten aber auch Wehmut, weil wir Freunde und Verwandte zurücklassen mussten und nicht wussten, ob wir sie jemals wiedersehen würden. Welche Erwartungen wir hatten? Dass wir ein neues Leben aufbauen müssen; dass wir reisen können, wohin wir möchten; dass wir Kultur vielfältiger erleben können; dass wir uns frei äußern können; dass wir einen guten Arbeitsplatz finden.
Was hat sich davon erfüllt, was nicht?
Hartmut Kaczmarek: Fast alle Erwartungen und Hoffnungen haben sich erfüllt. Das Wichtigste war, Verständnis zu haben für diejenigen, deren Leben sich total wandelte, die entweder den Sprung in die neue Zeit schnell schafften oder die mit den tiefgreifenden Umbrüchen in ihrem Leben nicht klar kamen und vielleicht bis heute nicht klar gekommen sind. In der Redaktion habe ich gemerkt: Ost- und Westdeutsche können gut zusammenarbeiten, wenn man sich aufeinander einlässt, miteinander redet.
Steffen Rinkefeil: Wir haben schnell einen Arbeitsplatz gefunden, obwohl uns so mancher in den alten Bundesländern eine schwierige Suche prophezeit hatte, weil es angeblich so viele Arbeitslose gebe. Ich hatte fünf Zusagen auf fünf Bewerbungen und mich für die Stelle des Redaktionsassistenten bei der Westfalenpost entschieden. Meine Eltern hatten Zweifel, ob ich schnell zurecht komme. Ich musste ja meinen kompletten Freundeskreis aufgeben. Aber es war recht unkompliziert, auch wenn es eine Weile dauerte, bis ich mir neue Freundschaften erarbeitet und mich daran gewöhnt hatte, viel selbstständiger agieren zu können bzw. zu müssen als vorher.
Was hat Sie in den 30 Jahren am meisten überrascht?
Hartmut Kaczmarek: Ich hätte nicht gedacht, dass die Wunden, die die Wende in vielen ostdeutschen Biografien hinterlassen hat, bei vielen nicht geheilt sind, ja, dass die alten Narben jetzt stärker als vielleicht noch vor einigen Jahren wieder aufbrechen. Das liegt an einer mangelnden Aufarbeitung jener Zeit, die nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer hervorgebracht hat. Die Politik hat viel zu lange den Fehler gemacht, die Situation in den neuen Ländern schönzureden statt sich auch mit den Verwundungen jener Zeit auseinanderzusetzen, jenen Menschen zuzuhören, die als Folge der überhasteten Privatisierung vieler Ostbetriebe ihren Arbeitsplatz verloren haben, die in eine Spirale aus Minijobs und Arbeitslosigkeit geraten sind und noch heute mit ihrem Schicksal hadern und den Frust auch an die nächste Generation weitergeben. Auf der anderen Seite hat mich überrascht, wie viele Menschen die Chancen, die sich ihnen boten, ergriffen haben, wie gerade in Thüringen Start-ups aus dem Boden sprießen, wie sich das Land mittlerweile bei der Arbeitslosenquote mit westlichen Bundesländern messen kann.
Steffen Rinkefeil: Dass sich auf beiden Seiten doch einige Vorurteile gehalten haben. Es gibt immer noch Pauschalierungen, insbesondere von jenen, die sich nie bemüht haben, die „Anderen“ richtig kennen zu lernen. Ich kann mich noch gut an die erste Zeit in Westfalen erinnern: Ich war der Exot aus dem Osten – was nicht negativ gemeint ist. Viele wollten von mir wissen, wie es in der DDR war. Schnell merkte ich, dass wir zwar dieselbe Sprache sprechen, aber in verschiedenen Welten aufgewachsen sind. Ich brauchte ungefähr ein Jahr, bis ich begriffen habe, wie die Menschen in meiner neuen Umgebung ticken. Und diese Zeit brauchte ich auch, um nicht mehr von dem Überangebot an Konsumgütern in den Geschäften und neuen Eindrücken erschlagen zu sein.
Was hat Sie in den 30 Jahren am meisten enttäuscht?
Hartmut Kaczmarek: Drei Dinge: Erstens, dass viele Ostdeutsche ihren Frust jetzt in rechtspopulistische Kanäle leiten, dass sie nicht sehen oder sehen wollen, dass die AfD ihren Protest nur für ihre eigenen Ziele nutzt, ohne den Menschen wirklich helfen zu wollen. Zweitens: Dass es den politischen Parteien, von CDU bis zur Linkspartei, noch nicht gelingt, ein Rezept zu finden, diese enttäuschten Menschen wieder einzubinden. Und drittens: Das mangelnde Interesse vieler Westdeutscher an den Entwicklungen in Ostdeutschland. Ich habe neulich eine Zahl gelesen, dass 20 Prozent der Westdeutschen in den vergangenen 30 Jahren noch nicht einen Fuß in die neuen Ländern gesetzt haben. Das ist enttäuschend.
Steffen Rinkefeil: Im zwischenmenschlichen Bereich: Dass die Entwicklung zu einer Ellbogengesellschaft weiter fortgeschritten ist, dass der Umgang schwieriger geworden ist. Gerade in den letzten Jahren ist die Hemmschwelle zur Gewalt und der Respekt gegenüber anderen gesunken. Im staatlichen Bereich: Der „Aufbau Ost“ war richtig, die Versprechungen wurden gut umgesetzt. Ich zahle gerne meinen Solidarbeitrag. Aber: Während viel Geld in die neuen Bundesländer geflossen ist, wurde im Westen Deutschlands nicht genug getan. Der Investitionsstau zeigt sich in einer maroden Infrastruktur und verfallenen Orten. Und: Die Schere zwischen Reich und Arm ist weiter auseinander gegangen. Am meisten enttäuscht mich, dass zu viele Menschen in den neuen Bundesländern sich abgehängt fühlen und der AfD in die Arme laufen. Wie kann diese Partei z.B. bei den Landtagswahlen in Thüringen in einer Kulturstadt wie Weimar nur so gut abschneiden? Das ist für mich nicht nachvollziehbar, haben all die Menschen nichts aus der Vergangenheit gelernt?
Wenn jemand aus den neuen Bundesländern in die alten ziehen wollte, welche fünf Tipps würden Sie ihm geben?
Hartmut Kaczmarek: Nicht alles glauben, was über den Osten erzählt wird; sich vorher selbst ein Bild machen; den Menschen zuhören; sich mit der Geschichte auseinandersetzen, um besser verstehen zu können; sich mit Kollegen, Nachbarn und Freunden gegenseitig die Lebensgeschichte erzählen.
Steffen Rinkefeil: Offen gegenüber Neuem sein; auf Menschen zugehen; seine eigene Herkunft nicht verleugnen; echte Freunde als Anlaufstelle nutzen; vor allem mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg halten.
Hat sich die Einheit in den Köpfen verfestigt?
Hartmut Kaczmarek: Wenn man Umfragen glauben darf, nein. Westdeutsche sprechen noch immer von „Jammer-Ossis“, Ostdeutsche fühlen sich fast zur Hälfte als Bürger zweiter Klasse. Meine Erfahrung ist: Vorsicht bei solchen Umfragen. Ich treffe viele Menschen, vor allem Jüngere, denen egal ist, ob man aus Ost- oder Westdeutschland stammt, die dorthin gehen, wo sie Freunde haben, wo sie gut leben und gut verdienen können. Nachholbedarf gibt es trotzdem noch: Die geschichtlichen Erfahrungen werden zu häufig verdrängt. Wenn Westdeutsche, die heute über den Osten lästern, einmal eine so tiefgreifende Veränderung ihres Lebens hätten durchmachen müssen, würden sie vielleicht anders reden. Und die Ostdeutschen? Sie sollten sich die Aufbruchstimmung, die in der Wendezeit herrschte, wieder zu eigen machen, sie sollten aus dieser Wendeerfahrung immer wieder Kraft schöpfen nach dem Motto: Wir haben das damals gemeinsam und friedlich geschafft. Dann werden wir auch die Probleme heute bewältigen können.
Steffen Rinkefeil: Es herrscht leider bei einigen noch Nachholbedarf. Es gibt immer noch diverse Vorurteile auf beiden Seiten – seien es hüben die undankbaren „Ossis“, denen nach der Wende vermeintlich das Geld zugeschustert wurde; seien es drüben die „neureichen Wessis“, die dazu neigen, ihre Mitbürger zu bevormunden. Die Befindlichkeiten herrschen in der Regel nur in bestimmten Altersschichten vor. Nicht bei jenen, die nach dem 9. November 1989 aufgewachsen sind: Für die ist alles eins.
Wie haben Sie den 9. November 1989 erlebt?
Hartmut Kaczmarek: Es war in der Westfalenpost-Redaktion einer jener turbulenten Tage, die das Nachrichtengeschäft mit sich bringt: Was geschieht heute in der DDR? Unser damaliger Bonner Korrespondent, Bernd Heintze, hatte sich auf den Weg nach Berlin gemacht. Dort angekommen, berichtete er am frühen Abend: nichts Auffälliges auf den Transitstrecken. Also planten wir die Ausgabe vom 10. November: Aufmacher sollte der Polen-Besuch von Kanzler Kohl sein. Ach ja, und da gab es gegen 18 Uhr eine Pressekonferenz in Ost-Berlin – Politbüromitglied Günther Schabowski wollte über Entscheidungen der DDR-Spitze informieren. Also planten wir eine kurze Nachricht auf der Seite 1 und einen Hintergrund für die Seite 2 ein. Aber dann kam alles anders: Gegen 19 Uhr überschlugen sich die Eilmeldungen: Zunächst war unklar, was die neuen Reiseregelungen wirklich bedeuteten. Gebannt starrten wir auf die Bildschirme im Redaktionsraum. Die Arbeit an der aktuellen Ausgabe wurde erst einmal auf Eis gelegt, gegen 20 Uhr eine neue Titelseite kreiert: in der größte Schrift, die wir damals zur Verfügung hatten, lautete jetzt die Schlagzeile: „DDR öffnet die Mauer.“ Bis in die Nachtstunden hinein wurde aktualisiert.
Steffen Rinkefeil: Meine Eltern und ich hätten den Mauerfall fast verschlafen. Natürlich hatten wir seit unserer Ausreise im Mai 1989 u.a. die Montagsdemonstrationen in unserer Heimatstadt Leipzig aufmerksam verfolgt. Aber am 9. November saßen wir in unserer Mendener Wohnung und schauten uns einen Film im Fernsehen an. Plötzlich schepperte es an der Balkontür – Freunde von uns, die ein Jahr zuvor überraschend ausgereist waren, standen da mit einer Flasche Champagner und sagten, dass wir schnell umschalten sollten, die Grenzen sind offen. Wir sahen Live-Übertragungen jubelnder und tanzende Menschen auf der Mauer in Berlin.
30 Jahre Mauerfall – so berichteten wir 1989
Zur Person: Steffen Rinkefeil ist 50 Jahre alt und ledig. Der gebürtige Leipziger wohnt in Dortmund. Der gelernte Schriftsetzer ist seit 30 Jahren als Blattplaner bei der Funke Mediengruppe (unter anderem bei der Westfalenpost) beschäftigt.
Zur Person: Hartmut Kaczmarek (64) wohnt in Bad Berka, ist verheiratet und hat ein Kind. Beruflicher Werdegang: 1979-1992: Westfalenpost, zuletzt Leiter der Landesredaktion; 1992-2014: Thüringische Landeszeitung, Chefreporter, dann stellv. Chefredakteur; 2014-2018: Paritätischer Landesverband Thüringen; seit 2018 im Ruhestand.