Vor 30 Jahren fiel die Mauer in Berlin. Wie war das eigentlich am 9. November 1989, haben wir uns in der Siegener Redaktion selbst gefragt.

9. November 1989? Diese historischen Stunden habe ich im kleinen Sitzungssaal des Netphener Rathauses verbracht, der sich an diesem Donnerstag einstimmig für neuen Personenverkehr auf der Kleinbahnstrecke aussprach – die Johannlandbahn war Thema. Außerdem nahm sich gerade die CDU auseinander – einen Monat zuvor hatte sie die Bürgermeisterwahl verpatzt und den Weg für SPD-Mann Helmut Buttler frei gemacht.

Am Morgen des 9. November steht in unserer Zeitung, dass an diesem Tag „erneut 32 DDR-Flüchtlinge“ erwartet werden und die Stadt „mit Hochdruck weitere Übergangseinrichtungen“ sucht. Der Mauerfall am gleichen Abend erreicht den Lokalteil in der Samstagausgabe. Die Kollegen haben sich am Freitag in den Übergangsheimen bei denen umgehört, die schon ausgereist oder geflüchtet sind, und treffen auf gedämpfte Stimmung: Keine Wohnung, keine Arbeit…

Meine Kolleginnen und Kollegen in der Lokalredaktion haben aufgeschrieben, wie sie 28 Jahre zuvor den Bau der Mauer erlebt hatten. Ich, nur ein paar Monate älter als die Mauer, war da noch nicht gefragt. Heute bin ich der Letzte, der aus dem Siegener Team von 1989 noch im Dienst ist.

Dann das Wochenende: Am Samstag klingelt die Polizei den Siegener Stadtdirektor aus dem Wochenende, bei der Dutzende Besucher aus der DDR Schlange stehen. Das „Begrüßungsgeld“ – 100 Mark pro Person – muss der Mitarbeiter der Stadt am Geldautomaten abheben.

Schon den ganzen Sommer über kommen DDR-Bürger und deutschstämmige Aussiedler aus Osteuropa auch im Siegerland an. Längst schon wurden Notunterkünfte eingerichtet, Betten in Turn- und Mehrzweckhallen aufgestellt. Die Familie aus Erfurt, die ich selbst am Wochenende in Dahlbruch kennen lerne, gehört übrigens nicht dazu: Sie fährt nach dem Verwandtenbesuch wieder mit dem Trabi zurück nach Hause. Sie rechneten mit harten Zeiten, sagen sie mir.

Kein Anschluss unter keiner Nummer

Wir haben einen neuen Zeitfresser: Telefonieren in die DDR. Man braucht eine Nummer, man braucht eine Leitung – davon gibt es nicht viele. Ach ja: Internet gibt es noch nicht, keine Mails, keine Messenger,. Unsere Arbeit verändert sich. Natürlich geht es weiter um die Kastanien, die die Stadt Hilchenbach in der Dammstraße fällen lassen will. Wir berichten nun aber auch über die Kontakte zwischen Kommunen in der DDR, die wir bald schon als „neue Bundesländer“ bezeichnen, und Städten in Siegen-Wittgenstein. Wir berichten über Karrieren, die bis dahin unmöglich waren Burkhard Jung, Lehrer am Evau, geht 1991 nach Leipzig, wo er Oberbürgermeister wird. Dr. Bernd Jartwig, Netphens soeben pensionierter Gemeindedirektor, heuert in der Magdeburger Stadtverwaltung an – lässt das dann aber schnell bleiben. Und so weiter.

Wir erkunden das neue Land, das uns bis dahin meist versperrt war. Bis auf Ausnahmen: Manchmal kam ein Telegramm (Telefonieren ging ja nicht), dass jemand aus der Verwandtschaft gestorben war („Einreisegenehmigung folgt“). Einmal hat uns die Bundestagsabgeordnete Waltraud Steinhauer nach Ost-Berlin mitgenommen, wo sie einen regimekritischen Gesprächspartner aufgetan hatte. In Wirklichkeit saßen wir bei der Stasi am Kaffeetisch. Auch das können wir sehr bald nachlesen.

Redaktion Siegen: Wir erinnern uns

Florian Adam

Als die Mauer fiel, hatte ich nur eine vage Vorstellung davon, was die DDR ist – ich war 13. Ich habe das Geschehen verfolgt. Aber was damals Großartiges passierte, habe ich erst viel später begriffen. Als Junge dachte ich nicht so weit. Da hatte ich einfach nur Vorurteile gegenüber Ossis: Die sprechen doof, tragen doofe Klamotten, fahren doofe Autos, haben von nichts eine Ahnung – und die kommen jetzt alle und hängen bei uns rum. Dann lernte ich Ossis kennen, unter anderem Burkhard. Der war der netteste Kerl der Welt. Ich erinnere mich genau, wie mir das während eines Gesprächs mit ihm bewusst wurde. Ich schämte mich vor mir selbst in Grund und Boden. Man hält sich selbst ja immer für so offen und kosmopolitisch: Und da wurde mir klar, dass auch ich nur jemand war, der sich einer unbegründeten und völlig ätzenden Arroganz hingegeben hatte. Seitdem weiß ich, dass man sich nie etwas aufgrund von Halbwissen einbilden sollte über Menschen und Dinge, von denen man keine Ahnung hat.

Lutz Großmann

Um ehrlich zu sein, musste ich in meinem Gedächtnis bis ins letzte Hinterstübchen vordringen, um mich zu erinnern. Weil der 9. November 1989 aber ein Donnerstag war, dämmerte es plötzlich, denn das war damals – ich war 24 Jahre alt – mein (arbeitsfreier) Tennistrainingstag. Stundenlang saß ich vor dem Fernseher in der gerade neu bezogenen Wohnung, zwischen Umzugskartons und jedwedem Durcheinander. Fast schon widerwillig – was selten bis nie vorkommt – fuhr ich am frühen Abend zum Training. Volle Konzentration aufs Spiel war angesichts der sich überschlagenden Ereignisse in der DDR und der eigenen Neugier nicht möglich. Wir ziehen das Training trotzdem durch, schnell geduscht, ab nach Hause, wieder vor die Flimmerkiste. Wenige Minuten später spricht Günter Schabowski den entscheidenden Satz: „Ich glaube, das gilt ab sofort.“ Die Mauer ist gefallen, die Menschen strömen in den Westen. Und mir kullern ein paar Tränen über die Wangen ...

Jens Plaum

Die Mauer fiel und ich hab’s nicht mitgekriegt. Wie auch? Gab doch Wichtigeres, dachte ich. Ich war elf, die letzte Fußball-Weltmeisterschaft lag drei Jahre zurück, der Plan für die nächste war bereits klar: Das Panini-Sammelalbum sollte unbedingt voll werden. Macht das Ganze noch wertvoller. In der 86er-Version fehlten mir lediglich die Glitzerhälfte des Azteken-Stadions und der mexikanische Torhüter. Beides würde in Italien nicht dabei sein. Dumm. Dann also doch Weltgeschichte? Wir spielten mit unserer Mannschaft kurze Zeit später bei einem Fußballturnier. Mit dabei eine Truppe aus der Nähe von Schwedt in Brandenburg. Die Jungs sollten in unglaublich alten Jerseys aufs Feld laufen. Blau waren die und changierten leicht ins Violette, unbeabsichtigt, denke ich. Haben die wirklich nichts anderes, fragte ich damals – vermutlich mich. War letztendlich egal. Denn sie bekamen was anderes. Neue Trikots. Diesmal rot und weiß. Meine Lieblingsfarben.

Martin Horn

Dreieinhalb war ich, als die Mauer fiel. Klar, die schärfsten Erinnerungen sind es nicht, die ich von diesem Tag habe. Vielmehr ist es eine Art Collage verschiedener Bilder und Töne. Wie das des dauerlaufenden Fernsehers an diesem Nachmittag. Oder das ständige Klingeln des Telefons, was ich sonst nur mit Geburtstagen verband. Ich erinnere mich aber auch an eine bestimmte Atmosphäre, die von Aufgeregtheit, Freude und Verwunderung zugleich geprägt war. „Dass wir das noch erleben dürfen, daran haben wir nicht mehr geglaubt“, zitierte meine Mutter ihre Eltern, die zuvor anriefen. Die politische Tragweite dieses Ereignisses war mir damals natürlich noch nicht bewusst; sehr wohl aber, dass es meine Familie zutiefst bewegte. Nicht nur der Geschichtsunterricht bestätigte meine Eindrücke. Auch die Gespräche mit meinen Großeltern, die den Ursprung der Teilung noch als Kinder im faschistischen Deutschland erlebten, ließen mich die Emotionen, die der Mauerfall auslöste, erst verstehen.

Hans-Georg Möller

Irgendwie lag was in der Luft in dieser Zeit. Es war Bewegung ins starre System der DDR gekommen. Und dann dieser 9. November. Zu Hause saßen wir gebannt am Fernsehschirm, als die Pressekonferenz mit Günter Schabowski über die Mattscheibe flimmerte, in der das SED-System offene Grenzen versprach. „Nach meinen Informationen sofort, unverzüglich“, antwortete der Funktionär auf Nachfrage. Und als sich an der Bornholmer Straße der Schlagbaum hob, die verunsicherten Grenzposten dem Druck der Massen nachgaben, war uns klar, dass das jetzt, 28 Jahre nach dem Bau der Mauer, der erste Schritt zur Wiedervereinigung war. Die ganze Nacht harrten wir am Fernseher aus, sahen die Öffnung am Brandenburger Tor, die endlose Schlange der Trabis Richtung Westen pöttern. Zu Hause feierten wir mit. Ich hatte Berlin erlebt in der Zeit der Teilung, den Grenzwall, der so viel Leid verursacht, Leben gekostet hat. Und jetzt das – es war ein unbeschreibliches Gefühl. Gern wäre ich dabei gewesen.

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