Essen. Umgang mit Homosexualität, Frauenpriestertum, Zölibat: Es ist höchste Zeit für Reformen in der Kirche, so der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer

Missbrauch, Zölibat, Frauen, Macht. Die Liste der Baustellen in der katholischen Kirche ist lang. Wegen notwendiger Reformen gibt es derzeit einen Machtkampf zwischen Konservativen und Reformern; der Vatikan versucht, Reformer wie Kardinal Marx zurückzupfeifen. Ein entschiedener Befürworter von Diskussionen und des Synodalen Weges ist der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer, ein Sauerländer übrigens, ebenso wie Kardinal Reinhard Marx und ZDK-Präsident Thomas Sternberg. Im Interview erläutert der 55jährige Neuenrader, warum die Kirche nicht länger weitermachen kann wie bisher.

Herr Pfeffer, ein Kritiker warf Ihnen vor, dass mit Ihnen der Rauch des Satans in den Tempel Gottes einzieht. Zerstören Reformen die katholische Kirche?

Klaus Pfeffer: Nein, seit 2000 Jahren reformiert sich die Kirche, weil sich die Zeiten und die Menschen stets verändern. Heute sind die Veränderungen allerdings gravierend. Vieles von dem, was lange für unveränderlich galt, steht in Frage. Beim Priestertums wird das deutlich: Vor ein paar Jahrzehnten war dieser Beruf noch hoch angesehen; die zölibatäre Lebensform selbstverständlich. Das ist heute vorbei. Im Bistum Essen haben wir nur noch sieben Priesteramtskandidaten – zu meiner Studienzeit waren es um die Hundert. Wer da noch meint, wir brauchen nichts zu verändern, verschließt die Augen vor der Realität. Es ist allerhöchste Zeit, über die Bedeutung des Weiheamtes, den Pflichtzölibat und die Zulassung der Frauen zum Amt zu sprechen.

Es muss ein Ende haben, Homosexuelle abzustrafen

Warum gibt es denn um den Zölibat und die Zulassung von Frauen zu allen Ämtern solche Konflikte innerhalb der Bischofskonferenz beziehungsweise zwischen Rom und der Mehrheit der deutschen Bischöfe?

Es geht um die Frage, wie die katholische Kirche auf die Veränderungen in der modernen, pluralen Welt reagiert. Wir leben nicht mehr in einer Welt, in der „von oben“ bestimmt werden kann, was für alle gelten soll. Die Menschen sind frei, ihr Leben selbst zu bestimmen. Autoritäts- und Wahrheitsansprüche, die sich der Kraft des Arguments entziehen, können keine Akzeptanz erwarten. Die Katholische Kirche tut sich mit Pluralität, Vielfalt in Wahrheitsfragen und Toleranz aufgrund ihrer Tradition schwer. Das ist in den meisten anderen Religionen nicht anders. In einer pluralen und aufgeklärten Welt hat eine Kirche aber nur noch eine Chance, wenn sie den Dialog sucht, sich lernbereit und wandlungsfähig zeigt. Das sehen aber manche Kräfte in der Kirche anders. Sie fürchten, dass bei einer Öffnung Wesentliches verloren geht.

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Wie reagiert die katholische Kirche auf die Veränderungen in einer pluralen Welt?

Im Moment ringt die Kirche zwischen zwei Polen. Der eine: Festhalten an dem, was ist und Verstärkung all dessen, was aus der Vergangenheit vertraut ist. Der andere: Der mutige Versuch, die Botschaft Jesu für die heutige Zeit zu übersetzen – mit jener Offenheit und Freiheit, die Jesus selbst gelebt und gelehrt hat. Das zeigt sich dort, wo Gemeinden und kirchliche Organisationen Vielfalt sowie Experimente zulassen, vor allem akzeptieren, dass es auf komplizierte Fragen keine einfachen und ewiggültigen Antworten gibt.

Nicht nur einige Bischöfe reagieren darauf mit Angst vor Kontrollverlust, sondern auch einige Gläubige.

Jede Religion birgt die Versuchung in sich, mit einfachen Botschaften Sicherheit in einer unsicheren Welt zu bieten. Davon ist auch die katholische Kirche geprägt. Wenn ich an meine Eltern und Großeltern denke, dann bot ihnen die Kirche damals Klarheit und Sicherheit. Über Sexualität, Beziehung, Ehe und andere Lebensfragen wurde nicht diskutiert – es war ja klar, wie „richtiges“ Leben geht. Heute wissen wir: So einfach ist das Leben nicht – und wahrscheinlich war es das auch früher nicht. Deshalb muss sich unsere Kirche davon verabschieden, Menschen kontrollieren zu wollen. Gerade in Fragen der Sexualmoral haben wir das viel zu lange getan. Die rigide Art und Weise, in der bis in die jüngste Vergangenheit in das Beziehungs- und Sexualleben von Menschen hineinregiert wurde, hat großen Schaden angerichtet. Es muss ein Ende haben, Geschiedene, die wieder heiraten, zu verurteilen, oder Menschen, die ihre homosexuelle Orientierung leben, mit einem moralischen Bannstrahl abzustrafen.

Die Menschen lassen sich ihre Freiheit nicht nehmen

Als Priester im Ruhrbistum wissen Sie ja, wie sich Kirchenaustritte buchstabieren.

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Bei uns sind die Menschen geradeaus und lassen sich ihre Freiheit nicht nehmen. Sie sagen klipp und klar, was ihnen passt und was nicht. Darum verlassen sie eine Kirche, in der sie sich nicht ernst genommen fühlen. Fatal ist, dass die derzeitige Krise auch bei den Treuesten der Treuen ankommt. Viele engagierte Katholiken zweifeln, ob sie noch bleiben sollen. Die Signale aus Rom zum synodalen Wegsind deshalb auch in ihrer Wirkung verheerend: Keinerlei Versuch, die Situation in Deutschland zu verstehen; kein Gespräch mit den Bischöfen und dazu die Brüskierung der Laien, die nicht mit entscheiden sollen – das ist keine erwachsene Form des Umgangs miteinander. So könnte ich mein Amt als Generalvikar überhaupt nicht ausführen. Nur weil ich geweihter Priester bin, habe ich doch nicht die absolute Weisheit, um wie ein autokratischer König über die Köpfe meiner Mitarbeitenden hinweg zu entscheiden. Wenn Gottes Geist in allen Getauften und sogar darüber hinaus wirkt, dann ist eine andere Kultur des Miteinanders geboten: Gespräche „auf Augenhöhe“ – vertrauensvoll, zuhörend, lernbereit.

Was treibt die Konservativen an?

Sie haben ein wichtiges Anliegen. Sie erinnern daran, dass die Kirche nicht irgendein Verein ist – sondern die Gemeinschaft derer, die Jesus von Nazareth nachfolgen wollen. Dazu braucht es die Verständigung, was es denn heute konkret bedeutet, die Botschaft Jesu zu leben und weiterzutragen. Die Sorge aus dem konservativen Spektrum ist, dass wir die Botschaft Jesu falsch interpretieren oder aus dem Blick verlieren. Sie fürchten eine Beliebigkeit, wenn sich die Kirche „demokratisiert“ oder nur danach fragt, was den Menschen von heute gefällt. Dazu kommt, dass wir uns dazu auch weltweit verständigen müssen. Das Anliegen teile ich. Aber es ist extrem schwierig, in einer pluralen Welt mit sehr unterschiedlichen Kulturen und Traditionen Übereinstimmung zu finden. Da helfen weder autoritäre „Ansagen“ noch demokratische Abstimmungen zu allen möglichen Fragen. Es braucht den Dialog der verschiedenen „Lager“ – und die Bereitschaft, trotz Unterschieden beieinander zu bleiben. Es wäre deshalb schon viel, den jetzigen Konflikt im Geist des Evangeliums auszutragen. Also weniger Anklagen, Unterstellungen, Intrigen – und mehr Wertschätzung, Vertrauen, Offenheit und geduldiges Aushalten von Konflikten.

Einfache Antworten gibt es nicht

Die Kirchendiskussion geht parallel zur politischen Debatte, wo gewisse Kräfte ja auch das Rad zurückdrehen und die gute alte Zeit wieder haben wollen.

Die Idealisierung einer vergangenen Zeit halte ich für Unfug. War es vor fünfzig Jahren oder mehr wirklich „besser“? War es in den Jahrhunderten zuvor „besser“? Ich gehöre einer Generation an, die in Europa keinen Krieg erlebt hat und in der es stets aufwärts ging. Ich bin froh, nicht in der „alten Zeit“ meiner Eltern und Großeltern gelebt zu haben. Natürlich zeichnet sich ab, dass es auf Dauer kein einfaches „weiter-so“ mehr gibt. Klimawandel, Migrationsbewegungen und andere Probleme fordern uns heraus. Das verunsichert enorm und weckt die Sehnsucht nach einfachen Antworten. Die gibt es aber nicht.

Angst und Unsicherheit sind aber da.

Und sie sind berechtigt. Das Leben ist nun mal unsicher. Wir verfallen nur allzu gerne der Illusion, das Leben sichern zu können und zu beseitigen, was dem im Wege steht. Wir müssen aber lernen, mit Unsicherheit zu leben und kein vollkommenes Glück für uns selbst beanspruchen zu können. Wir sind aufeinander angewiesen, um uns gegenseitig zu unterstützen. Glück und Unglück sind oft ungerecht verteilt; umso wichtiger ist es, dass wir Teilen lernen und dass der Glückliche dem Unglücklichen beisteht. Der christliche Glaube verleugnet nicht die Unvollkommenheit der Welt und verspricht kein rundum glückliches Leben. Biblisch gesprochen: Aus dem Paradies sind wir Menschen vertrieben, und der Himmel kommt erst später – aber auf dem irdischen Weg haben wir Gott an unserer Seite. Er gibt uns nicht nur innere Kraft, sondern hält uns dazu an, mit Solidarität, Mitmenschlichkeit und Liebe gemeinsam in einer unsicheren Welt zu bestehen. Das ist doch eine starke Botschaft, mit der wir als Kirche heute punkten könnten!

Wirklich volle Kirchen erlebe ich selten

Als langjähriger Jugendpfarrer im Ruhrbistum ist Ihre Sicht möglicherweise verschieden von den Erfahrungen der Priester in der Komfortzone des Vatikans oder des ländlichen Raums.

Ich war viele Jahre in der Jugendarbeit tätig und habe viel von den jüngeren Generationen gelernt. Daher kommt auch meine Überzeugung, dass unsere Kirche einen Wandel benötigt. Auch die Erfahrungen heute im Ruhrbistum bestätigen das. Ich erlebe viele Menschen, die dem Christentum sehr interessiert begegnen. Es gibt ein großes Bedürfnis nach Religiosität. Die Menschen haben nur kein Interesse an einer Kirche, die schon alles weiß, die alles vorgibt und die eher weltfremd und verstaubt daherkommt. Unsere Gottesdienste sind dafür ein Symptom: Ich bin sonntags in vielen Gemeinden zur Aushilfe unterwegs – wirklich volle Kirchen erlebe ich selten und der Altersdurchschnitt zeigt: Eine Trendwende wird es nicht geben. Die Menschen von heute gehen nicht in eine Kirche von gestern. Der Synodale Weg ist darum jetzt eine Chance, offen und ehrlich – wie man im Ruhrgebiet sagt – „Tacheles zu reden“. Aber bitte mit einer Haltung der Angstfreiheit und ohne die gegenseitige Unterstellung, nicht „richtig katholisch“ zu sein, wenn man dieses oder jenes sagt. Und da wir Christen sind, schadet ein beherztes Vertrauen in die Führung des Heiligen Geistes sicher auch nicht.

Klaus Pfeffer wurde 1963 in Werdohl im Märkischen Kreis geboren und wuchs in der Nachbarstadt Neuenrade auf. Nach dem Abitur absolvierte er ein Zeitungsvolontariat beim Süderländer Volksfreund, bevor er in Bochum und Innsbruck Theologie studierte. Der 55-Jährige war viele Jahre Jugendpfarrer im Ruhrbistum Essen. Seit 2012 ist Pfeffer Generalvikar in Essen und damit Verwaltungschef der Diözese. In seiner Freizeit liest Pfeffer zeitgenössische Literatur, joggt und feuert den FC Schalke 04 im Stadion an.