Der Hass im Netz scheint grenzenlos. Vor allem Politiker werden beleidigt und bedroht. Wie Täter vorgehen und Betroffene reagieren.

Wenn Verena Verspohl (39) den Briefkasten öffnet, dann weiß sie meistens schon, ob es hässlich wird. Mit grünem Kuli ist ihre Adresse draufgekritzelt. Die Schrift sei „extra infantil“. Der Absender? Immer der gleiche. Unbekannt. Widerlich. „Du grüne Schlampe. Deine Ausländer müssten dich auch vergewaltigen, das ganze Pack. Dann weiß die Lesbe, was sie anschleppt“, steht da.

Fall 1: Hass-Briefe in der Post

Verena Verspohl ist Sprecherin der Grünen in Arnsberg, Mitglied im Landesvorstand. Sie ist Stellvertretende Schulleiterin, macht ehrenamtlich Schulpolitik – und positioniert sich immer klar gegen rechts. Das macht sie wie viele andere politisch Tätige zur Zielscheibe. Meistens nur im Netz, meistens bleibt es bei Beleidigungen. Aber bei ihr und anderen geht es auch oft darüber hinaus. Wie geht man damit um?

Als sie 2017 für den Landtag kandidierte, begann alles so richtig. „Nach meiner Nominierung war es schnell so, dass ich privat Briefe bekommen habe, im Zwei-Wochen-Rhythmus. Und irgendwann auch dienstlich. Das heißt: Die Absender haben darauf geachtet, dass ich merke, dass sie wissen, wo ich wohne, wo ich arbeite.“ In den Briefen stand detailliert, wann ihr Auto wo stand. „Gepaart mit der extremen verbalen Brutalität und dem brutalen Sexismus ist das natürlich schon ein bedrängendes Gefühl“, sagt sie.

Ihre Reaktion? Trotz. „Mich bestätigt das, dass ich weiter arbeiten muss für eine offene Gesellschaft und dass ich an der Stelle genau richtig bin. Mir hat das – auf mich bezogen – noch keine schlaflose Nacht bereitet, aber natürlich auf die gesellschaftlichen Prozesse hin.“ Denn es handele sich um eine Art Einschüchterung, die den demokratischen Diskurs beeinträchtigen kann.

Verspohl bringt die Beweisstücke nach Dortmund zum Verfassungs- und Staatsschutz. „Wir tüten die Briefe direkt ein in der Hoffnung, dass doch mal ein Fingerabdruck drauf ist, der erkennbar ist. Und damit alles dokumentiert ist, falls wirklich mal etwas passiert.“

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Regelmäßig, sagt sie, bekomme sie Dienstaufsichtsbeschwerden wegen des Vorwurfs, im Unterricht die AfD zurückzustellen und für grüne Politik Werbung zu machen. Regierungspräsident und Schulministerium werden eingeschaltet. Haltlose Vorwürfe, sagt sie. Nicht jeder ihrer Kollegen, das zeigen unsere Recherchen, meldet die Geschehnisse dem Staatsschutz. Nicht jeder will über Bedrohungen öffentlich reden. Aus Sorge, dass alles wieder anfängt. Oder noch schlimmer wird. „Mein Weg ist es, das öffentlich zu machen, damit die Menschen wissen, was vor sich geht und wie wichtig es ist, klar Stellung zu beziehen.“ Einen Rückzug aus der Politik will sie ihren Gegnern nicht zugestehen.

Fall 2: „Ich versuche die Kommentare zu verdrängen“

Über soziale Medien hat Birgit Sippel, Mitglied des Europaparlaments, schon einiges zu hören bekommen: „Euch sollte man aufhängen“ ist da nur eines der traurigen Beispiele. „Wenn es um Themen wie Gleichberechtigung oder Migration geht, wird die Stimmung schnell ungemütlich. Da haben wir es in einer schwierigen Sitzungswoche online schnell mal mit 20 bis 30 Kommentaren zu tun“ – der Ton rau.

Die SPD-Politikerin versucht, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, den Dialog zu suchen – fragt sich aber, ob die Leute es überhaupt Ernst meinen. Und die Zeit muss da sein. Man könne mit dem Antworten ja nicht zu lange warten. Bisher sah sie bei den von ihr erfahrenen Beleidigungen noch keinen Bestand einer Straftat erfüllt und hat daher auch noch nichts gemeldet. Wie sie mit beleidigenden Äußerungen umgehen soll, hat sie für sie noch nicht ganz herausgefunden. „Ich gucke mir die Kommentare an und versuche sie zu verdrängen.“ Diffamierende Äußerungen einfach zu löschen, helfe aber auch nicht: „Davon geht die aufgeheizte Stimmung ja nicht weg.“


Fall 3: Mehr Anfeindungen auch gegen Ehrenamtliche

Besonders im vergangenen Jahr haben Anfeindungen und Beleidigungen auch gegenüber ehrenamtlichen Politikern stark zugenommen, berichtet Axel Hoffmann, der Vorsitzende der FDP-Fraktion Märkischen Kreistag – wobei „dumm“ oder „inkompetent“ nur das untere Ende der Fahnenstange seien. Hoffmann, der seit 45 Jahren aktiv in der Politik ist, ärgern Beleidigungen, aber er habe gelernt damit umzugehen: „Vor persönlichen Angriffen ist erstmal keiner gefeit. Wenn man sich aber zu sehr davon beeinflussen lässt, gibt man den Urhebern genau das, was sie wollen.“

Dass Leute „sich nicht mehr politisch engagieren, weil sie nicht persönlich angegangen werden wollen“, stört ihn besonders. Durch die steigende Anonymität und Menge von Kommentaren, wird es schwerer „sich zu wehren“ oder mit den Leuten in Kontakt zu kommen. Hoffmann selbst ist auch aus diesen Gründen nicht in sozialen Netzwerken vertreten.

Fall 4: „Manche spucken vor unseren Stand“

Roland Steffe, Sprecher des AfD-Kreisverbandes Siegen-Wittgenstein, berichtet von einigen Vorkommnissen aus dem Straßenwahlkampf: „Im Vorbeilaufen wird man dann schon mal als Nazi oder rechtsradikales Arschloch bezeichnet. Manche­ spucken auch vor unserem Stand aus.“ Er versucht, nicht darauf zu reagieren, man wolle die Stimmung­ ja nicht aufheizen. Er berichtet, dass bei Veranstaltungen schon deeskaliert werden musste. Dass seine Partei als eine der Ursachen für eine Verrohung der Sprache bezeichnet wird, sieht er kritisch. Dennoch finde er es nicht angemessen wenn sich Parteikollegen in sozialen­ Netzwerken „unflätig“ benehmen.

Fall 5: „Wir wissen, wo du wohnst“

Ein anonymer Brief im Postkasten: „Wir wissen, wo du wohnst. Es kommen auch wieder andere Zeiten… Stell’ dich schon mal drauf ein!“ Ingo Hentschel, Geschäftsführer der Ratsfraktion Die Linke in Hagen, sieht es nüchtern: „Wenn die mir wirklich was tun wollten, hätten sie an der Ecke gestanden.“ Früher wurden ihm auch schon mal Eier an die Fenster geworfen. Anfeindungen erlebt der Ratspolitiker heute nicht mehr so häufig. Auch weil er sich selbst schützt, indem er in den sozialen Medien nicht mehr so präsent ist. Der Ton, sagt er, sei einfach zu rau gewesen und die Vorfälle hätten sich gehäuft.

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Natürlich findet er die Beleidigungen und Drohungen „scheiße“, doch davon will er sich nicht beeinflussen lassen. Wie es wäre, wenn seine Kinder noch nicht ausgezogen wären, weiß er allerdings nicht.

Fall 6: Statt Diskussionen wird heute beleidigt

Steffen Mues (CDU) ist seit zwölf Jahren Bürgermeister der Stadt Siegen: „Ohne dickes Fell macht es keinen Spaß mehr.“ Für ihn sind Beleidigungen fast schon Alltagsgeschäft. Das angesprochene dicke Fell diene ihm zum Eigenschutz, allerdings lasse man dadurch wohl auch mehr durchgehen. „Wo man früher harte Diskussionen geführt hat, wird heute beleidigt“, so Mues. Als „gehirnamputiert“ wurde er persönlich beleidigt. Bedrohungen habe er selbst zum Glück noch nicht erlebt.

Mitarbeiter seiner Verwaltung hat es bereits getroffen. Jeder einzelne Fall wird dann geprüft. Wenn ein Fehler passiert, „dann müssen wir mit aufgebrachten Bürgern auch umgehen können“. Als Ursache eines raueren Tons sieht er einen wachsenden Egoismus: „Ich habe das Gefühl, dass persönliche Beschränkungen durch Gesetze und Regeln in unserer Gesellschaft heute schnell als persönlicher Angriff wahrgenommen werden. Das macht mich fassungsloser als jede Beleidigung, denn es betrifft die Grundfesten der Demokratie.“ Themen bewusst auszulassen, weil sie auf Gegenwind treffen könnten, will er nicht: „Das ist es, was die Störer wollen.“

Fall 7: „Ich bring dich um!“, sagte der Anrufer

Sachkundige Bürgerinnen und Bürger stehen Ausschüssen und Räten mit ihrem fachlichen Wissen zur Seite. Auch auf dieser Ebene erfahren Menschen Anfeindungen. Eine Betroffene von den Grünen – die aus Sicherheitsgründen ungenannt bleiben will – erhielt neben schweren Beleidigungen bereits Drohungen „Ich bring dich um!“, sagte der Anrufer. „Ich weiß wo du wohnst.“ Und: „Pass besser auf, wenn du über die Straße gehst!“ Ihre Reaktion: „Jetzt erst recht!“ Sie will den „feigen Idioten nicht nachgeben“. Sie zeigt alles konsequent bei der Polizei an.

In einem besonders schweren Fall schritt der Staatsschutz ein und ließ ihren Wohnort bewachen. Ein gutes Gefühl gibt es ihr, dass in einem Fall schon ein Verfahren läuft. Unbeachtet geht das alles nicht an der Frau mittleren Alters vorbei. „Die ersten Male waren wirklich schlimm. Das hinterlässt Spuren, man wird misstrauischer – auch den Mitmenschen gegenüber. Man überlegt zweimal, wen man sich nach Hause einlädt.“ In sozialen Netzwerken sieht sie eine „absolute Enthemmung“ des Tones.