Altena. . Die UN zeichnet Altenas Bürgermeister Hollstein für dessen Flüchtlingspolitik aus. Warum er glaubt, dass Seehofer in der Flüchtlingsfrage irrt.
Für seine ganzheitliche und integrative Flüchtlingspolitik ist der Bürgermeister von Altena, Andreas Hollstein, mit der Nansen-Flüchtlingsmedaille ausgezeichnet worden.
Der Flüchtlingspreis wird seit 1954 jedes Jahr vergeben. Andreas Hollstein ist Preisträger für Europa. Über diese besondere Ehre sowie die Vorkommnisse in Chemnitz sprachen Jost Lübben und Torsten Berninghaus mit dem 55-Jährigen.
Altenas Bürgermeister Hollstein: "Messerangriff hat meine Haltung nicht geändert"
Herr Hollstein, wie fühlt es sich an, von den Vereinten Nationen mit einem international so renommierten Preis ausgezeichnet zu werden?
Andreas Hollstein: Für mich ist das immer noch nicht vollständig fassbar. Aber ich finde es sehr ehrenvoll, diesen Preis im Namen der zahlreichen ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer in dieser Stadt entgegennehmen zu dürfen.
Sie sind als Bürgermeister der eher kleinen Stadt Altena als Preisträger für Europa ausgewählt und stehen damit nun in einer Reihe mit großen internationalen Persönlichkeiten ...
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Das letzte Jahr war für uns in Altena ohnehin ein Kino-Jahr. Den Deutschen Integrationspreis aus den Händen der Kanzlerin zu erhalten war ein besonderes Erlebnis. Und dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sich zwei Stunden Zeit nimmt für einen Besuch in unserer Stadt – das hätte doch niemand für möglich gehalten. Persönlich bin ich durch die Ehrung der Vereinten Nationen sehr berührt, weil mir bewusst ist, dass so etwas einmalig ist in meiner politischen Karriere. Andererseits aber weiß ich genau, dass die Normalwelt eines Bürgermeisters bei Diskussionen auf dem Markt oder bei der Eröffnung eines Postverteilzentrums stattfindet. Das sind die Gelegenheiten, die ich so schätze. Diese Begegnungen geben mir Kraft und erden mich.
In einer Reihe mit Weizsäcker, Roosevelt und Kennedy
Der Nansen-Flüchtlingspreis wird seit 1954 von den Vereinten Nationen (UN) verliehen, um Einzelpersonen oder Organisationen zu ehren, die sich um die Sache der Flüchtlinge auf der Welt besonders verdient gemacht haben. Der Preis trägt den Namen des norwegischen Polarforschers und ersten Hohen Flüchtlingskommissars Fridtjof Nansen und ist seit 1979 mit 100 000 US-Dollar für ein Flüchtlingsprojekt dotiert, das der Gesamt-Preisträger frei wählen kann.
Der Gesamt-Sieger wird vom Komitee unter den vier Erdteil-Preisträgern ausgewählt. Die Erdteil-Preise sind nicht dotiert. Zu den Preisträgern zählen unter anderem Eleanor Roosevelt (1954), Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1992), Ärzte ohne Grenzen (1993) und Edward Kennedy (postum, 2009). Die Preisverleihung findet in Genf statt
Sie erhalten die Auszeichnung, weil Sie seit Jahren sehr viel dafür tun, um aktiv Flüchtlinge in Ihrer Stadt zu integrieren. Dieses Engagement hat Ihnen nicht nur Lob, sondern auch viel Kritik eingetragen. Im November 2017 wurden Sie mit einem Messer angegriffen und verletzt. Sie hätten auch sterben können. Wie geht es Ihnen heute?
Der Angriff hat an meiner Haltung nichts geändert. Ich bin unter anderem in die Politik gegangen, damit Hass nie wieder auf der Straße ausgetragen wird – so wie im Dritten Reich. Das bin ich auch meinen Kindern schuldig. Ich möchte für richtige Ideen mutige Entscheidungen treffen können. Das gilt auf allen Politikfeldern und auf kommunaler genau wie auf Bundesebene. Politik bedeutet: in Demut gewählt zu werden; ertragen, wenn man abgewählt wird; andere Meinungen zulassen – aber nicht willfährig werden.
Hat diese Tat Ihr Leben und Ihr Handeln verändert?
Der Angriff kam ja nicht aus heiterem Himmel. Die ersten Hasszuschriften erreichten mich nach unserer Entscheidung, Flüchtlinge aufzunehmen. Diese Mails und Briefe haben wir damals einfach weggeworfen. Das tun wir heute nicht mehr. Nach zwei öffentlichen Auftritten zu dem Thema kamen – abgesehen von sehr, sehr vielen Zustimmungsmails – auch vermehrt Hassschriften. Und natürlich war nicht auszuschließen, dass aus diesen Drohungen auch Taten werden könnten – obgleich ich das nicht für wahrscheinlich gehalten habe.
Wäre Polizeischutz eine Lösung gewesen?
Nach der Tat gab es tatsächlich die Frage, ob ich Polizeischutz benötigen würde. Das habe ich spontan abgelehnt. Unter Polizeischutz kann man das Amt eines Bürgermeisters nach meinem Dafürhalten nicht ausüben. In einem solchen Fall geht die Unmittelbarkeit und Vertrautheit von Begegnungen mit den Bürgern verloren – und die braucht ein Bürgermeister unbedingt.
Sie hätten sich nach dem Angriff zurückziehen können. Das haben Sie nicht getan, sondern sind sehr bewusst in die Öffentlichkeit gegangen. Warum?
Natürlich wäre es naheliegend gewesen, sich zurückzuziehen. Da ich aber glücklicherweise relativ unverletzt aus der Sache herausgekommen bin, habe ich auch nach Beratung mit anderen beschlossen, das Thema öffentlich zu machen. Ich war und bin überzeugt, dass es nicht akzeptabel ist, wenn Politiker – übrigens nicht nur in der Flüchtlingsdebatte – persönlich angegangen werden. Es kann nicht sein, dass Menschen, die für den Staat arbeiten, beschimpft und attackiert werden. Darüber muss man öffentlich sprechen.
Sie – und auch Ihre Familie – mussten dafür nicht nur eine Welle von Beleidigungen und Hass im Internet ertragen. Sie haben drei Hörstürze erlitten. Der Täter wurde vom Landgericht Hagen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Der Richter kritisierte Sie sogar für Ihre Medienpräsenz. Haben Sie manchmal gezweifelt, ob es das alles wert ist?
Ich persönlich wollte mich nicht von diesem Hass in meinem Handeln beeinflussen lassen. Ich wollte mir treu bleiben in meinem Politikverständnis und in meinem Politikstil. Wenn meine Familie gesagt hätte, wir tragen das nicht mehr mit, hätte ich anders gehandelt. Aber natürlich hatten wir damals Angst. Allein schon der abendliche Fußweg vom Rathaus nach Hause war problematisch. Und natürlich gibt es immer wieder Situationen oder Vorfälle, die das Geschehene zurückbringen. Unter dem Strich muss man feststellen, dass die größte Wirksamkeit politischen Handelns auf der kommunalen Ebene stattfindet – und dort sind wir dann auch angreifbar.
In Chemnitz haben sich Enttäuschung, Wut und Hass in einer bisher nicht gekannten Dimension entladen. Normale Bürger liefen in einem Demonstrationszug mit Rechtsextremen und skandierten „Ausländer raus!“. Die Beratungsstelle für Opfer Rassistischer Gewalt hat Migranten geraten, die Innenstadt von Chemnitz zu meiden. Haben Sie solche Tendenzen erwartet?
Ich sehe die latente Gefahr, dass sich Chemnitz auch woanders zutragen könnte. Und damit meine ich nicht den öffentlichen Protest, sondern die Tatsache, dass sich dort Hass auf der Straße entlädt. Und dass sich dort ganz normale Bürger in den Protestmarsch der Rechtsextremisten einreihen. Es macht mir Angst, dass hier Berührungsängste zu diesen Gruppen fallen. Entscheidend wird sein, dass wir Demokraten diesen Tendenzen entschlossen entgegentreten – und zwar gemeinsam. Die politische Elite muss für unsere demokratischen Werte öffentlich eintreten.
Herr Seehofer hat gesagt, die Migrationsfrage sei die Mutter aller Probleme. Hat er Recht?
Nein, Herr Seehofer irrt. Dass es Zurückhaltung oder sogar Angst vor fremden Kulturen gibt, ist nicht neu. Entscheidend ist, wie wir damit umgehen und dass wir es nicht zulassen, dass der rechte politische Rand daraus Kapital schlägt.
Wie soll das gehen?
Ich denke, dass die eigentliche Herausforderung in der gerechten Verteilung von Mitteln besteht. Vor Ort ist es nicht zu vermitteln, dass Menschen, die in einfachen Jobs fleißig sind und arbeiten, am Ende nicht viel mehr haben als diejenigen, die sich auf Transferleistungen des Staates verlassen.
Was kann unsere Gesellschaft dagegen tun?
Wir müssen das Vertrauen in Politik wieder herstellen. Sonst glaubt uns doch ohnehin niemand, dass wir die Zuwanderung von Flüchtlingen im Griff haben. Selbst, wenn das so ist. Und dieses Politik-Vertrauen wird sich in den Städten und Gemeinden entscheiden. Dort ist Politik anfassbar. Dort bleibt eine Schule oder sie wird geschlossen. Dort gibt es Antworten auf die Frage, wie man auf dem Land als älterer Mensch leben kann – oder es gibt sie nicht. Dort muss die Erkenntnis wachsen, dass jeder einzelne verantwortlich ist für das, was geschieht – dass jeder einzelne ein Teil ist von dem, was wir Staat nennen.