Iserlohn. . Eine 23-Jährige aus dem Märkischen Kreis ist zwischen Schnapsflaschen aufgewachsen. Jetzt hilft sie Kindern, die alkoholkranke Eltern haben.

Das Bild hat sich bei ihr eingebrannt: Überall in der Wohnung verstreut lagen Bier- und Schnapsflaschen. Für Stefanie war es die normalste Sache der Welt, das Leergut einzusammeln und zu entsorgen. Ihre Kindheit – das war ein Leben in einer Familie mit alkoholkranken Eltern. „So lange ich denken kann, habe ich den Haushalt geschmissen und das eine oder andere Mal meine Mutter und meinen Stiefvater aus der Kneipe geholt“, beschreibt die 23-Jährige aus dem Märkischen Kreis, wie sie zu früh zu viel Verantwortung übernommen hat. Und doch: Sie liebe ihre Mutter bis heute, sagt sie. Gewalt zu den Kindern sei in der Familie nie ein Thema gewesen.

Stefanie will ihre Geschichte erzählen, will die „vergessenen Kinder“ und damit ein Thema in die Öffentlichkeit bringen, das kaum beachtet wird. Und sie will Mädchen und Jungen helfen, denen die Kindheit in einer Familie mit alkoholkranken Eltern geraubt wird. Die 23-Jährige ist ehrenamtliche Betreuerin im Verein „Flaschenkinder Iserlohn“.

Stefanie und weitere Vereinsmitglieder empfangen den Besuch von der Zeitung in den Vereinsräumen irgendwo im Märkischen Kreis. Der genaue Ort kursiert nicht in der Öffentlichkeit – zum Schutz der Kinder, die dort Zeit zum Durchatmen finden.

Zentrales Thema Öffentlichkeit

Öffentlichkeit – das war immer ein zentrales Thema in Stefanies Familie. „Je näher die Pubertät rückte und je häufiger ich Freundinnen zu Hause besuchte, umso mehr dämmerte mir, dass unser Familienleben doch nicht so normal ist.“ Die Probleme bei anderen anzusprechen, war aber tabu. „Mir wurde gesagt: ,Dann kommt das Jugendamt und nimmt dich mit’.“ Also lernte sie früh, die Dinge zu verdrängen, zu vertuschen und zu überspielen. Auch vor Nachbarn und Verwandten: „Alle haben darüber geredet, aber keiner half.“

Sie musste sich selbst Hilfen suchen. Zum Beispiel durch die Schule. „Ich kam raus“, sagt Stefanie. Im Unterricht versuchte sie, sich Zuwendung zu holen. Sie sei der Streber gewesen, erzählt sie. Und doch: Die Noten verschlechterten sich: „Ich war durch die Arbeit im Haushalt müde.“

Dass die Leistungen schlechter werden, ist typisch für Kinder von alkoholkranken Eltern, weiß Kathrin Thielmann-Lange, „Flaschenkinder“-Vorsitzende und selbst betroffen. Schule sei zwar ein Ort der Regeneration, an dem man keine Angst haben muss, dass Gegenstände durch die Räume fliegen oder die Eltern sich prügeln. Aber: „Man zieht sich zurück, starrt aus dem Fenster, verhält sich destruktiv im Unterricht.“

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Die Lehrer merkten zwar, dass etwas nicht stimmt, so Kathrin Thielmann-Lange, aber sie hätten nicht die Zeit, mit den Kindern nach Lösungen zu suchen. Sie wollten etwas verändern, könnten aber nichts tun, weil sie nicht wissen, wo anzusetzen ist. Und sie haben Sorge, etwas Falsches zu tun – zum Beispiel dafür zu sorgen, dass das Kind aus der Familie genommen wird: „Sucht ist eine Krankheit, die durch Verunsicherung und Angst fast nicht zu bremsen ist. Dadurch sind alle Beteiligten blockiert und handlungsunfähig.“

22 Jungen und Mädchen betreut

22 Betroffene zwischen 3 und 25 Jahren werden derzeit vom Verein „Flaschenkinder“ betreut. „Sie wachsen mit der Familienkrankheit auf, lernen früh, sich zu isolieren und Dinge mit sich selbst zu klären, erkennen Zusammenhänge erst spät.“ Und das ein Leben lang: einmal Flaschenkind, immer Flaschenkind. Und auch noch selbst stark alkoholgefährdet: Man müsse dafür sorgen, dass die bürgerliche Fassade nach außen hält, gleichzeitig versuchen, die Katastrophe in der Familie zu verhindern. Kathrin Thielmann-Lange: „Es ist wie ein Radar im Kopf, das ständig piept.“ Irgendwann gewöhne man sich daran. Schlimmer noch: „Man wird älter, probiert Alkohol, das Piepen hört auf, man glaubt an Urlaub für den Kopf.“

Nicht selten leben Flaschenkinder als Erwachsene in einer Beziehung mit einem Alkoholiker. „Ich gebe zu, es hört sich seltsam an“, sagt Vereinsmitglied Nina. „Man weiß, was auf einen zukommt - auch wenn es schlecht ­endet.“ Unbekanntes mache einem Flaschenkind Angst. Mit Kathrin Thielmann-Langes Worten: „Man sucht jemanden, der einen versteht.“

Wie kann den Kindern geholfen werden? „Sie aus der ­Familie zu nehmen, ohne Eltern aufwachsen zu lassen, ist nicht die Lösung“, findet Kathrin Thielmann-Lange. Oft helfe schon Unterstützung durch die Familienhilfe - damit der Alltag eine Struktur erhalte.

In 18 Jahren Vereinstätigkeit gab es erst einen Fall, bei dem wegen Kindswohlgefährdung ein Heranwachsender aus einer Familie genommen wurde. „Alkoholiker sind oft liebevolle und gutmütige Menschen, die ihre Kinder aufrichtig lieben. Ihre Krankheit reißt aber erbarmungslos sie selbst - mit allem, was sich direkt in ihrem Umfeld befindet - in den Abgrund.“

Vor zwei Jahren hat Stefanies Mutter zum ersten Mal gesagt, dass sie sie liebt. „Sie war zwar betrunken, aber es tat gut.“ Bis heute mache sie alles für sie, trotz der Sucht. „Eher zu viel. Das würde ich nicht tun, wenn ich sie nicht liebte.“