Hagen. . Künftig sollen in Kliniken Personaluntergrenzen für die Pflege gelten. Südwestfalens Fachkräfte und Krankenhäuser erhoffen sich nicht viel davon.
Fall Nr. 167 275 zum Beispiel. „Es kommt in letzter Zeit häufiger vor, dass eine examinierte Kraft bei uns im Krankenhaus am Wochenende für bis zu 30 Personen zuständig ist.“ So schreibt ein Pfleger, vielleicht auch eine Schwester, anonym in der Datenbank CIRS, in der Klinikpersonal Fehler meldet, um daraus zu lernen.
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Die Folge der Personalnot: Wenn einer der Patienten reanimiert werde, müsse die Pflegekraft alle anderen unbeaufsichtigt oder sogar ganz allein lassen, schildert der anonyme Melder seinen Alltag. Das Ergebnis: „Schwere Komplikationen bei Patienten auf der Station; unzureichende Reanimation bei sehr kleinem Rea-Team.“
Das Ziel
Fall 167 275 ist in der CIRS-Datenbank unter „Typische Fälle“ gelistet. Weil über Jahre hinweg in Kliniken Pflegepersonal abgebaut worden ist, kommt es immer wieder zu teils gefährlichen Fehlern. Immerhin: Das Problem ist erkannt; im vergangenen Sommer, kurz vor der Bundestagswahl noch, hat sich die alte Große Koalition darauf verständigt, dass künftig in den Kliniken Personaluntergrenzen gelten sollen. Zumindest auf Stationen, in denen dies für die Patientensicherheit notwendig sei wie Intensivstationen und im Nachtdienst.
Bis zum kommenden Sommer sollen sich Krankenhäuser und -kassen auf einen Personalschlüssel verständigen. Für die Intensivmedizin liegt bereits eine Empfehlung vor: eine Pflegekraft für zwei Betten.
Die Wirklichkeit
Was aber ist bisher in Kliniken üblich? Ein Pfleger für zwei Intensivbetten wie vorgeschlagen – „dies wird im Regelfall von uns sicher gestellt“, heißt es aus dem Kreisklinikum Siegen.
Weniger Pflegekräfte, mehr Ärzte
Bis zum Jahr 2007 haben die Krankenhäuser nach Angaben der Bertelsmann-Stiftung ihr Pflegepersonal kontinuierlich abgebaut.
Seit 2008 hat sich der Trend umgekehrt. 2015 gab es allerdings noch 3,4 Prozent weniger Pflegepersonal als im Jahr 2000.
Die Zahl der Ärzte ist seit 2000 um 42 Prozent gestiegen.
Kurzfristige Ausfälle ließen sich aber nicht immer kompensieren. Und in anderen Abteilungen, zum Beispiel im Nachtdienst oder der Onkologie? Was Zahlen anbetrifft, geben sich die Kliniken zugeknöpft: „Das Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke hat auf seinen Stationen angemessene Stellenschlüssel, die den Anforderungen entsprechen.“
Im Alltag komme in vielen Häusern auf der Intensivstation ein Pfleger auf drei bis vier Patienten, weiß Ulrich Mönke. Der gelernte Krankenpfleger leitet am Klinikum Arnsberg das Beratungszentrum und ist Vorstandsmitglied des bundesweiten Vereins „Pflege in Bewegung“, der für bessere Arbeitsbedingungen kämpft. Im Nachtdienst versorge in manchen Häusern eine Schwester 40 Patienten. Im Bundesdurchschnitt herrsche ein Verhältnis von einer examinierten Kraft auf 13 Patienten, zitiert Mönke eine Studie der Hochschule Hannover. „Damit ist Deutschland Schlusslicht in Europa“, sagt er. In den Niederlanden gebe es einen Schlüssel von 1:5, in Norwegen von 1:4, in der Schweiz von 1:6.
Die Folge
Fall 167 275 zeigt die Folgen dieser Personalengpässe. Oder Fall 130 417: „Medikamente wurden aufgrund hoher Personalbelastung im Nachtdienst falsch gerichtet“, ist der Fall überschrieben. Eine Pflegekraft musste die Arzneien für 60 Patienten richten. Pro Patienten müsse man dafür drei bis fünf Minuten rechnen, heißt es in der Fallanalyse. Was bedeute, dass die Kraft fünf Stunden lang nur mit den Arzneien beschäftigt war. Mit dem Ergebnis, dass ein Medikament in der Nacht zwei- statt einmal verabreicht wurde.
Die Lösung?
Personaluntergrenzen sollen solche Fehler verhindern. Aber: Wenn die Mindestanforderungen nur für einige Abteilungen gelten wie für Intensivstationen oder den Nachtdienst, „dann schichten Kliniken Personal nur um und ziehen es aus anderen Stationen ab“, fürchtet Ulrich Mönke. Deshalb fordert er pauschal zehn Prozent mehr Personal in allen Abteilungen.
Allerdings „gibt es gar nicht genügend Fachkräfte, um alle freien Stellen zu besetzen“, sagt Christian Klodwig, Geschäftsführer des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke. Auch er wünscht sich eine bessere personelle Ausstattung, fordert aber auch eine Gegenfinanzierung durch die Krankenkassen. Und was, „wenn zum Beispiel Patienten abgewiesen werden müssten, weil der Personalschlüssel auf einer Station nicht den gesetzlichen Anforderungen entspräche?“, fragt Jasmin Shmalia, Pflegedirektorin in Herdecke. Für sie unvorstellbar: „Hier muss die Politik erst zu Ende denken.“