Siegen. . Gefärdete Kinder in Obhut nehmen oder zurücklassen? Für die Mitarbeiter in den Jugendämtern ist der Job eine tägliche Gratwanderung.
- Zahl der Verdachtsfälle auf Kindeswohlgefährdung steigt landesweit
- Belastung für die Mitarbeiter von Jugendämtern hoch
- Gretchenfrage: Kind in Obhut nehmen oder zurücklassen?
Eine volle Windel auf dem Balkon, zu einem prallen Paket zusammengerollt. Daneben schmutzige Decken und ein Müllsack. Alkoholflaschen auf dem Couchtisch im Wohnzimmer. Erreichbar für ein Kleinkind. In der Küche stapelt sich Geschirr. Vollgestopfte Kartons überall in der Wohnung.
Aber es sind die Bilder aus dem Kinderzimmer, die für Andrea Bosch „ganz erschreckend“ sind, auch nach 27 Jahren Berufserfahrung. Ein karger Raum. Nur ein Schrank und ein Gitterbettchen. Kein Kuscheltier, kein Bild an der Wand. Die Tapete über dem Kinderbett ist abgeknibbelt, Fetzen sind auf dem Boden verstreut. „Ein Zeichen dafür, dass sich lange niemand mit dem Kind beschäftigt hat“, sagt Thomas Wüst.
Gesprächsbereitschaft
Vier Jahre ist der Fall alt. Thomas Wüst und Andrea Bosch vom Jugendamt im Kreis Siegen-Wittgenstein haben ihn noch einmal hervorgeholt, zeigen die Bilder, um ihre Arbeit zu erklären. Eine Arbeit auf schmalem Grat: Vor dem Landgericht Arnsberg wird derzeit erneut der Fall eines Jungen verhandelt, den seine Mutter verhungern ließ – obgleich das Jugendamt die Familie längst betreute. Die zuständige Mitarbeiterin ist wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung verurteilt worden, ihr Anwalt hat aber Berufung eingelegt. Im Jahr 2016 musste die Staatsanwaltschaft gegen das Jugendamt Herdecke ermitteln, weil es Kinder unrechtmäßig aus Familien geholt haben soll. Eltern hatten Anzeige erstattet. Die Staatsanwaltschaft hielt die Vorwürfe für unberechtigt.
Wie Jugendämter bei einer Kindswohlgefährdung vorgehen
Die Fotos aus der Wohnung in Netphen hatte die Polizei gemacht und dem Jugendamt übermittelt, dazu von häuslicher Gewalt in der Familie berichtet. „Wir sind noch am gleich Tag mit zwei Leuten hingefahren“, sagt Thomas Wüst. Und dann? Kann man ein Kind in einer solchen Familie, in einer solchen Wohnung zurücklassen? Der kleine Junge ist geblieben.
Mit den Eltern ins Gespräch gekommen
„Wir sind mit den Eltern ins Gespräch gekommen“, erklärt Andrea Bosch. „Die beiden haben selbst gesehen, dass sie ein Problem haben“, fügt sie hinzu. Vielleicht wäre die Entscheidung anders ausgefallen, wenn Vater und Mutter Ausflüchte gesucht, sich herausgeredet hätten mit einer Party am Vorabend. Die Eltern aber versprachen, die Wohnung bis zum Morgen darauf aufzuräumen – bis zum nächsten Besuch des Jugendamtes. Sie wollten Hilfe annehmen.
„Wir gehen nur, wenn wir ganz sicher sind, dass das Kind am nächsten Morgen noch gesund und unverletzt ist“, sagt Thomas Wüst. Eine mathematische Formel, die diese Sicherheit gibt, haben sie nicht. Also im Zweifelsfall lieber in Obhut nehmen? „Ein Kind unberechtigt aus der Familie zu holen, kann genauso dramatisch falsch sein, wie es dort zu lassen“, so Thomas Wüst. Der Gedanke an die eigene Sicherheit der Mitarbeiter vor strafrechtlicher Verfolgung müsse zurückstehen.
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Doch auch, wenn kein Zweifel besteht, dass die Entscheidung richtig ist: „Ein gutes Gefühl ist es meist nicht, das Kind zurückzulassen“, sagt Thomas Wüst. Die eigenen Vorstellung von einem liebevollen, guten Zuhause müsse man hinten anstellen. „Wir können nicht dafür sorgen, dass jedem Kind am Abend vorgelesen wird.“ Der Auftrag sei erfüllt, „wenn eine 4- erreicht ist“, drückt Thomas Wüst es mit Schulnoten aus.
Hohe Belastung
Die Belastung ist hoch für die Mitarbeiter. Als er vor sieben Jahren ins Jugendamt des Kreises kam, „da konnten etwa 20 Prozent der Mitarbeiter den Job nicht mehr tun“, blickt Sachgebietsleiter Thomas Wüst zurück. Nun achte man in Vorstellungsgesprächen darauf, „dass die persönliche Ausstattung der Mitarbeiter stimmt“.
Doch die Anforderungen steigen weiter. Die Zahl der Gefährdungsanzeigen nimmt mancherorts zu – in Siegen-Wittgenstein allein im Jahr 2017 wieder um 40 Prozent, fürchtet Thomas Wüst. Die Zahl der Mitarbeiter wächst nicht.
Der Junge aus Netphen ist am Ende doch in Obhut gekommen. Nachdem erst der Vater gegangen war, brachte das Jugendamt den Kleinen mit seiner Mama in einer Mutter-Kind-Einrichtung unter. Eines Tages war die Mutter weg – den Jungen hatte sie zurückgelassen. Er lebt in einer Pflegefamilie.