Essen. Nora Imlau, Autorin von „Bindung ohne Burnout“, gibt Eltern Tipps für ein unbeschwertes Leben mit Kindern: Freude statt Perfektion.
Mütter und Väter betrachten das Elternsein heute als Job. Ein Job, in dem sie alles perfekt machen wollen. Das kann auf Dauer nur zu Erschöpfung führen, warnt Nora Imlau (41), Familienexpertin und Autorin von „Bindung ohne Burnout“. Im Gespräch zeigt sie Auswege.
Welchen Punkt auf der To-do-Liste von Familien würden Sie als Erstes streichen?
Nora Imlau: Ich würde den Anspruch streichen, die To-do-Liste komplett schaffen zu wollen. Es ist nicht schlimm, wenn man nicht alles schafft. Es gibt Familien, die haben den wichtigen Punkt: Wir müssen jeden Tag eine gemeinsame Familien-Mahlzeit haben, wo alle gemeinsam anfangen und alle gemeinsam enden und alle alles probieren. Da würde ich gerne ganz viel Druck herausnehmen. Der To-do-Punkt „Ernährung“ muss sein: Alle haben am Ende genug gegessen, wann auch immer, wo auch immer. Andere Familien haben den Listenpunkt: Auf keinen Fall die Medienzeit überschreiten! Auch da würde ich gerne Druck herausnehmen und sagen: Leute, es ist doch cool, wenn Eure Kinder mal einen Moment etwas gucken können und Ihr mal einen Moment Pause machen könnt, solange das nicht völlig überhandnimmt. Ich würde gerne einen Punkt über die To-do-Liste setzen: Alles, was Euch guttut, ist gut. Gönnt Euch die Sachen, die Euch Entspannung bringen. Familienleben ist stressig genug – ohne Perfektionismus.
Woher kommt dieses starke Streben nach Perfektionismus?
Die heutigen Eltern sind durch unsere Leistungsgesellschaft sozialisiert. Sie betrachten das Elternsein als Job. Sie wollen alles richtig machen, bei der Arbeit, in der Partnerschaft, mit den Kindern. Das kann kein Mensch. Da rate ich zu einer gewissen Grundgelassenheit, nicht Gleichgültigkeit, aber es reicht, wenn die Ernährung einigermaßen gesund ist, die Klamotten einigermaßen okay sind. Eltern sind vor lauter Verbissenheit, alles gut machen zu wollen, verkrampft und ausgebrannt. Dann fehlt dem Alltag mit Kindern die Leichtigkeit und die Freude. Kinder wollen aber authentische Eltern erleben, die auch mal Fehler machen und vergessen, einzukaufen, und stattdessen mal mit ihnen eine Fertigpizza essen.
Ich habe den Eindruck, dass sich Eltern nicht nur selbst den Druck machen, sondern die Erwartungen an sie auch gestiegen sind.
Die Erwartungen an gute Elternschaft sind in den letzten Jahrzehnten massiv gestiegen. Gute Eltern in den 1950er-Jahren sollten die körperliche Sicherheit und die Versorgung des Kindes sicherstellen, also die Kinder brauchten ein Dach über dem Kopf und Essen und später schickte man sie zur Schule. Es gab nicht wie heute den Anspruch, mit den Kindern zu spielen, ihre Emotionen zu begleiten, eine lange Einschlafbegleitung zu machen.
Das sind auch Empfehlungen des bindungs- und bedürfnisorientierten Erziehungsstils, den Sie vertreten. Und die überfordern Eltern?
Es gibt viele Unsicherheiten, da die bindungsorientierte Elternschaft nicht klar definiert ist. Es gibt das Vorurteil, das sei eine lasche Elternschaft, wo die Kinder den Eltern auf der Nase herumtanzen, wo es keine Grenzen gibt. Das ist überhaupt nicht so. Eine richtig verstandene bindungsorientierte Elternschaft hat die Bedürfnisse aller im Blick, auch die der Eltern. Bei einem ganz kleinen Baby sind wir darauf eingestellt, erstmal die Bedürfnisse des Neugeborenen zu erfüllen. Doch Eltern verpassen dabei einen wichtigen Absprung. Sie denken, ihr Job sei es, quasi jedes Bedürfnis des Kindes zu erkennen und prompt und angemessen zu erfüllen und das die nächsten 18 Jahre. Das funktioniert nicht.
Wie schaffen Eltern den Absprung?
Nach den ersten sechs bis acht Wochen muss dann ein Alltag einkehren, wo wir uns immer noch liebevoll um das Baby kümmern, aber wo wir wieder schauen: Was brauchen wir? Und dem Baby auch etwas zumuten. Wenn es weint und gestillt werden möchte, darf ich zuvor noch ein Glas Wasser trinken. Wenn ich auf Toilette muss, dann wartet das Kind. Vielleicht muss es eine Minute weinen. Aber ich muss meine Bedürfnisse auch erfüllen. Es gibt viele Eltern, die kommen aus diesem Neugeborenen-Versorgungsmodus nicht raus. Die gehen nicht auf Toilette, wenn ihr Kind ein Buch angucken will.
Das kann ja auf Dauer nicht gut gehen, oder?
Eltern denken, das sei bindungsorientiert, aber das ist absolut ungesund, für beide Seiten. Die Kinder lernen so auch nicht eine altersangemessene Frustrationstoleranz. Es ist wichtig, dass Dreijährige die Erfahrung machen: Ich kann Mama nicht verbieten, duschen zu gehen. Ein Kind muss halt lernen, die eigenen Bedürfnisse sind wichtig, aber ich muss auch mal warten. Es geht nicht darum, das Kind in eine Ecke zu setzen und schreien zu lassen, damit es lernt, dass es nicht immer seinen Willen bekommt. Ich kann ja freundlich und zugewandt mit einem Kind sein und trotzdem Grenzen hochhalten und sagen: Ich gehe jetzt duschen, du kannst gerne im Bad spielen, und wenn du das blöd findest und weinst, tut mir das leid, aber ich gehe jetzt trotzdem duschen.
Und dann hat ein Vater einen wichtigen Termin bei der Arbeit und das Kind bekommt einen Wutausbruch und weigert sich, zur Kita zu gehen. Wie gehen Eltern mit solch stressigen Situationen um?
Es gibt immer wieder krass überfordernde Situationen. Wenn ein Kind richtig wütend wird und sehr willensstark ist, kann es auch schon mal eine halbe Stunde am Stück ohrenbetäubend laut sein. Das ist dann kein verzogenes Kind, es hat nur ein sehr starkes Temperament. Für mich als Mutter oder Vater ist es anstrengend, das Kind zu begleiten. Das Einzige, was da helfen kann, um in solchen Momenten genug Kraft zu haben, ist konsequente Selbstfürsorge. Habe ich genug Pausen? Habe ich genug Schlaf? Habe ich genug Dinge, die meine Seele nähren? Gespräche mit Freunden, mit meinem Partner oder meiner Partnerin? Ich habe selbst vier Kinder, mir ist klar, dass Zeit für sich selbst rar ist, trotzdem: Ich kann mich entscheiden, dass der Baby-Schwimmkurs zu stressig ist. Da verabrede ich mich lieber mit einer Freundin und das Baby ist halt dabei. Und ich kann auch erstmal in Ruhe Mittagspause machen, bevor ich mein Kind aus der Kita abhole. So baue ich für stressige Situationen vor, statt die ganze Zeit am Limit zu operieren.
>>> Nora Imlau und ihr aktuelles Buch „Bindung ohne Burnout“
Die vierfache Mutter und Autorin Nora Imlau vertritt einen Erziehungsstil, der auf die Bindung zwischen Eltern und Kindern setzt und die Bedürfnisse aller Familienmitglieder im Blick hat. Sie hat mehrere erfolgreiche Ratgeber geschrieben.
Nora Imlaus aktuelles Buch: Bindung ohne Burnout – Kinder zugewandt begleiten, ohne auszubrennen, Beltz, 205 Seiten, 20 €
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