Essen. Auf der Suche nach dem Heimatgefühl im Ruhrgebiet - Diskussionsveranstaltung der Brost-Stiftung fragt nach dem „Wir im Pott“.
Gibt es das Ruhrgebiet überhaupt? Hat dieses sich ständig wandelnde Konglomerat aus Altem und Neuem, aus Städten und Stadtteilen, Ober- und Unterzentren, rostigen Industriedenkmälern und glitzernden Bürotürmen überhaupt eine gemeinsame Struktur, eine Seele gar? Kann dieses historisch gewucherte und zerrissene Gebilde den Menschen eine Heimat sein?
So lautet die nicht einfach zu beantwortende Ausgangsfrage der Diskussionsrunde mit Kommunal- und Heimatministerin Ina Scharrenbach (CDU), dem Historiker und Schriftsteller Per Leo sowie Jost Lübben, Chefredakteur der Westfalenpost in Hagen. Zur Debatte mit dem Titel „Auf der Suche nach dem Ruhrgebiet: Heimat, Identität und das Wir im Pott“ hat die Brost-Stiftung am Donnerstagabend in das FUNKE-Medienhaus in Essen eingeladen. Die Veranstaltung bildet den Auftakt für das Stiftungsprojekt „Heimat stiften“.
Gefühl von Unsicherheit und Fremdheit
Ina Scharrenbach sollte ja schon von Amts wegen wissen, was Heimat bedeutet und wo man den Herzschlag des Ruhrgebiets besonders spürt. Auf Zollverein oder auf Schalke? Am Borsigplatz oder am Kanal? „Heimat im Ruhrgebiet bedeutet natürlich auch Montanindustrie und Stahl. Das Ruhrgebiet ist auf Kohle gebaut. Darauf kann man heute noch stolz sein. Der Bergbau prägt mit seinen Landmarken bis heute das Lebensgefühl im Revier“, so die Ministerin. Heimat sei das, was nicht austauschbar ist, was einzigartig ist. Dazu gehörten Familie, Freunde, Arbeit und auch Sicherheit. Viele Menschen hätten daher Angst, dass sich etwas verändert und das Bekannte und Sichere bedroht sei.
Der Psychologe Prof. Andreas Marlovits konnte dem nur zustimmen. „Check Pott“ ist der Titel einer Befragung über das Lebensgefühl der Menschen in der Region, aus der er erste Ergebnisse vorstellte. Dabei werde ein wachsender Zwiespalt in der Stimmungslage sichtbar. Einerseits die Liebe zur Region, die Verbundenheit mit dem Ruhrgebiet, andererseits das Gefühl, dass sich etwas verändert, dass die eigene Stadt fremd zu werden droht. „Das Gefühl der Unsicherheit wächst“, bilanzierte Marlovits.
Der Heimatbegriff werde heute anders gefüllt aus früher, sagte Chefredakteur Lübben. „Tradition und Kultur sind nach wie vor wichtig, der Schützenverein, die freiwillige Feuerwehr.“ Diese Strukturen würden aber heute von den jungen Menschen mit anderen, modernen Inhalten gefüllt: „Heimat ist der Ort, an dem die Menschen die Werte teilen.“ Man merkt es bald in der Debatte: Heimat ist ein schillerndes Wort.
Die Konstante ist der Wandel
Obwohl aus München, weiß Per Leo, wovon er spricht, wenn es um das Ruhrgebiet geht. Als „Metropolenschreiber Ruhr“ lebte der Autor 2022 ein halbes Jahr in Mülheim und erkundete dabei Region, Menschen, Kultur und Geschichte mit dem Blick des Fremden. Seine Eindrücke fasste er in seinem Buch „Noch Nicht Mehr. Die Zeit des Ruhrgebiets“ zusammen. Und dieser paradox anmutende Titel bringt seine Analyse auf den Punkt: Das Ruhrgebiet ist nicht zu fassen, es pendelt unentschieden hin und her zwischen der Verklärung der Vergangenheit und der Suche nach der Zukunft – also zwischen „nicht mehr“ und „noch nicht“.
Einst Agrarland, dann Industriemoloch, heute dicht besiedelte Städtelandschaft – kaum eine Region Europas hat sich binnen 150 Jahren so radikal gewandelt wie das Ruhrgebiet, führte Leo aus. Die immer wieder gestellte Frage, was denn nun seine Identität, seine Eigenart ausmacht, läuft daher oft ins Leere, ins Ungewisse und Diffuse. Für Per Leo, der mit seinem Gemeinschafts-Buchprojekt „Mit Rechten reden“ Furore gemacht hat, liegt der überraschende Schlüssel zum Verständnis der Region womöglich in ihrer Zwitterstellung zwischen Gestern und Morgen. Also im Wandel.
„Vergesst das Ruhrgebiet!“
„Wo Vertrautheit ist, wird von Heimat nicht gesprochen“, so Leo. Von Heimat sei immer erst dann die Rede, wenn sie bedroht sei, wenn sich etwas verändert. „Als die Montanindustrie den Bach runter ging, begann im Ruhrgebiet die Debatte über Heimat“, so Leo. Der Wandel sei daher geradezu die Voraussetzung für das Erwachen eines Heimatgefühls. Daher greift es zu kurz, das Revier klischeehaft auf seine montane Vergangenheit zu reduzieren – und ebenso, es als „Modellregion“ visionär zu verklären. Es gibt keinen Deckel, der auf „den Pott“ passen will.
„Wo gelingt das Ruhrgebiet?“, fragte der Historiker. Und gab selbst die Antwort: vor Ort, im Lokalen, in den Quartieren. Die Menschen seien nicht stolz auf das ganze Gebilde namens Ruhrgebiet, sondern auf ihre Stadt, ihr Viertel. Die Zukunft der Region liege demnach im „lokalen Gelingen“. Dies sei die Voraussetzung für ein Heimatgefühl der Menschen. Danach möge jede Stadt ihre eigene Atmosphäre und ihr eigenes Profil entwickeln, anstatt die gesamte Region wahlweise als Kultur-, Wissens-, Metropol- oder Energieregion einzuzäunen und damit die alte gewalttätige Klammer von Kohle und Stahl durch eine neue zu ersetzen. Leo: „Vergesst das Ruhrgebiet und schaut, was vor der Haustür passiert!“