Essen. Leos Buch „Noch nicht mehr“ lobt den Innovationsschub des Reviers für die deutsche Geschichtswissenschaft – und seinen großen Landschaftsumbau.

Das Ruhrgebiet ist kaum zu fassen. Per Leo, der ein halbes Jahr lang „Metropolenschreiber Ruhr“ war, ist nicht der Erste, der zu dieser Erkenntnis kommt – aber kaum jemand hat sie so schön mit Sätzen und Einsichten umtanzt wie der Historiker, Schriftsteller, Journalist und „Schatullenproduzent“ aus Berlin in seinem neuen Buch „Noch nicht mehr“. Angeregt vom Satz seines Vorgängers Wolfram Eilenberger, dem zufolge „Ruhrgebiet“ ein „sprachliches Zeichen ohne bestimmbaren Referenten“ sei, stimmt Per Leo den vielen Kapitulationen vor dem diffusen, heute weniger denn je bestimmbaren Wesen des Reviers zu. Und attestiert ihm einen Mangel an „heiterem und gelassenem“ Selbstbewusstsein.

Genau wie vor 100 Jahren, als das Ruhrgebiet für Reporter und Autoren von Joseph Roth bis Egon Erwin Kisch zum Ort des Staunens und Schauderns wurde, ist immer noch ist schwer zu sagen, wo es anfängt, wo es aufhört. Und ein Ersatz für die einstige Klammer der Montanindustrie, die das Ungetüm aus vielen Städten zusammenhielt, ist nicht in Sicht – und Leos Historikerkollege Ulrich Herbert, der vom Ruhrgebiet aus eine steile Universitätskarriere hingelegt hat, empfiehlt dem Revier ohnehin, auf „funktionale Differenzierung“ zu setzen, also jede Stadt ein eigenes Profil ausbilden zu lassen und nicht darauf zu setzen, als ganze Region eine Kultur-, Wissens-, Medizin-, IT- oder Energiemetropole zu werden. Abgelichtet sei es jedenfalls zur Genüge, die Foto-Bände zählten längst nach Regalmetern.

Abrechnung mit Heinrich Böll – und Empfehlung der Henrichshütte Hattingen

Vorweg wirft Leo einen Blick zurück auf vergangene Versuche, das Revier zu fassen. Gründlich zerpflückt er Heinrich Bölls Textbeigabe zu Chargesheimers Fotobuch „Im Ruhrgebiet“ von 1958 – aber nicht wegen der Finsternis im Blick aufs Revier, die damals die Revier-Honoratioren auf die Palme brachte, sondern wegen offensichtlicher Klischees, intellektueller Unschärfen und schreiberischen Unvermögens: „Das Ruhrgebiet bleibt Kulisse“, von seinem Charakter, seinem Wesen ist so gut wie nichts erfasst.

Lange Zeit Treffpunkt von innovativen Historikern: die Alte Synagoge in Essen.
Lange Zeit Treffpunkt von innovativen Historikern: die Alte Synagoge in Essen. © FFs | Dirk A. Friedrich

Vielleicht auch, weil es so diffus ist, heute mehr denn je: Leos eigenwilliger Buchtitel verkörpert die schon lange anhaltende Situation des Reviers zwischen dem „Nicht mehr“ und dem „Noch nicht“. Seit über 150 Jahren pendele es rastlos zwischen beiden Polen, wie jemand, der bipolar gestört sei. Leo, der mit seinem Gemeinschafts-Buchprojekt „Mit Rechten reden“ Furore gemacht hat, sieht in den gelungenen Industriedenkmälern hingegen ein „Sinnbild postindustrieller Identität“ – weil Natur und ehemalige Industrie hier zu einem Einklang gelangen, wie ihn die fernöstliche Philosophie als Zusammenkommen von Vergangenheit und Zukunft im Augenblick als poetisch und ästhetisch verehrt. Er empfiehlt zur Illustration einen Besuch der Henrichshütte in Hattingen – hier verbinde sich beispielhaft das „Nicht mehr“ mit dem „Noch nicht“.

Die Verdienste der „Essener Schul“ um Lutz Niethammer: „Oral History“ auf Deutsch

Es ist dies eine der beiden großen Leistungen des Ruhrgebiets in jüngerer Zeit, die Per Leo herausarbeitet: Die Umgestaltung einer industriell geschundenen Region zu einer Landschaft mit Profil, wie sie mit der Internationalen Bauausstellung Emscherpark unter der Regie von Karl Ganser und Christoph Zöpel gelungen sei. Und das, nachdem die Stadt- und Landschafts-Planer jahrzehntelang vor der Macht der Industrie hatten kapitulieren müssen. Abgesehen von einer einzigen Ausnahme, die fatale Folgen zeitigen sollte: Die Durchsetzung von Grünzügen für eine halbwegs passable Belüftung des „Kohlenpotts“ verhinderte letzten Endes das Zusammenwachsen der Region zu einer echten Großstadt.

Die andere besteht in einer Innovation der deutschen Wissenschaftskultur auf dem Feld der Geschichtsforschung, wie sie Ende der 70er-Jahre durch den Historikerkreis gelang, der sich regelmäßig in der Alten Synagoge in Essen traf. Weshalb ihr Mentor Lutz Niethammer auch von einer „Essener Schul“ sprechen möchte. Der Essener Antifaschist Ernst Schmidt war ihr Vorreiter, zu Niethammers Schülern und Kollegen gehörten Detlev Peukert, Michael Zimmermann und Franz-Josef Brüggemeier, Ulrich Herbert und der spätere Gründungsdirektor des Ruhrmuseums Ulrich Borsdorf.

Die Plattform für Ruhrgebiets-Identität: Der Klartext Verlag von Ludger Claßen

Sie alle führten das Prinzip der „Oral History“ in die hiesige Geschichtswissenschaft ein, indem sie die Haltung der Arbeiter im Ruhrgebiet zum Nationalsozialismus vor Ort erkundeten. Mit zweischneidigem Erfolg: Man fand wenig Widerstand, sondern Einverständnis mit der stabilen Zeit der 30er-Jahre und – teilweise – Unzufriedenheit mit der Kriegszeit. Die Forscher im Ruhrgebiet schufen mit ihren noch weiter gehenden Erkenntnissen die Grundlagen für das, was heute deutsche Erinnerungskultur heißt. Auch dies ein „Nicht mehr“ und „Noch nicht“ zugleich.

Bewundernd hält Leo fest, dass es der von Ludger Claßen betriebene Klartext Verlag war, der – damals noch als „Gegenöffentlichkeit“ – zur Plattform dieser wissenschaftlichen Leistungen wurde. Claßen habe das Ruhrgebiet mit dem Verlag „gerettet“; „oder vielleicht eher: neu erfunden“. Dass man von der Region nach wie vor als einer Einheit rede, sei auch sein Verdienst: „Indem er im Takt einer Zeitschrift Ruhrgebietsbücher veröffentlichte, wurde der Verlag zu einem Zeitpunkt, als der Atem der Schlote versiegte, für einen Sozialraum, wo die Institutionen fehlten, wo Tradition ein Pfeifen im Walde war, wo den Großbetrieben und Organisationen die Verhältnisse allmählich entglitten, zu einem Hort der kulturellen Beständigkeit.

Von Ludger Claßen hätte Per Leo allerdings auch lernen können, wie man Hochlarmark richtig schreibt. Aber das ist auch schon der größte Fehler in diesem anregenden Buch.