Essen. Maria Theodora Bottlenberg-Landsberg hat Angst. Ihr Vater wurde damals von den Nazis hingerichtet. In der AfD sieht die Essenerin Parallelen.
Ein Haus am Essener Baldeneysee, das Wohnzimmer voller Bücher, selbst auf dem Tisch liegt noch ein großer Stapel. „Die muss ich dringend noch lesen“, sagt Maria Theodora Freifrau von dem Bottlenberg-Landsberg. Die 93-Jährige lehnt sich in ihrem geblümten Sessel zurück. Es sei ihr wichtig, sich weiterzubilden und zu reflektieren, sagt sie. Jeden Tag verfolgt die promovierte Germanistin noch die Nachrichten, liest die Zeitung – und was sie dort liest und sieht, besorgt sie. Deswegen erhebt sie als Zeitzeugin ihre Stimme, hält vor Menschen jeden Alters Vorträge über das Dritte Reich. Die junge Generation will sie warnen.
„Ich habe Angst. Angst davor, dass sich die Menschen mit ihren eigenen Sorgen zudecken und dadurch den Blick für ihre Mitmenschen verlieren. Das war damals in der Nazizeit auch so. Es begann damit, dass Juden diffamiert wurden. Dann hat man sie aus der Gesellschaft ausgeklammert. Und schließlich umgebracht.
Zeitzeugin: „Wir erleben eine Zeit, in der Mitgefühl verloren geht“
Auch in der heutigen Gesellschaft werden Menschen, die uns fremd erscheinen, ausgeklammert. Die Parallelen zu damals finde ich erschreckend. Wir erleben wieder eine Zeit, in der Mitgefühl verloren geht, die Empathie für Menschen, die anders aussehen oder anders denken.
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Ich bin 93 Jahre alt, ein Kind des Krieges. Mein Vater war der Widerstandskämpfer Karl Ludwig Freiherr von und zu Guttenberg. Er war konservativer Publizist und Widerstandskämpfer. Und er hatte enge Kontakte zu den Menschen, die am 20. Juli 1944 ein Attentat auf Adolf Hitler ausübten, das fehlschlug. Deswegen wurde er von den Nationalsozialisten inhaftiert und ermordet. Damals war ich gerade einmal 14 Jahre alt. Diese Zeit hat mich sehr geprägt.
„Wir hatten schreckliche Dinge erlebt, wollten das aber ausklammern, uns amüsieren“
Aber in meiner Generation wurde wenig geredet. Menschen neigen dazu, schlimme Erlebnisse zu verdrängen, weil sie Angst davor haben, dass der Schmerz wiederkommt. In der Nachkriegszeit habe ich Germanistik studiert, wir haben damals viele Feste gefeiert. In Barrie Koskys Bayreuther Inszenierung von Richard Wagners „Meistersinger“ gab es eine Szene: Im Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse haben junge Menschen getanzt. Sie haben dort gefeiert, wo die grausamen Verbrechen der Nazis aufgearbeitet wurden.
Da ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen: Das war ich, das war meine Jugend. Wir hatten schreckliche Dinge erlebt, wollten das aber ausklammern, uns amüsieren. Heute sehe ich das kritisch: Weil wir so wenig an uns herangelassen haben, ist vieles an Erfahrung von damals verloren gegangen.
Umso wichtiger ist es, dass sich die Menschen heute mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Ich trage meinen Teil dazu bei und gehe als Zeitzeugin in Schulen. Dort erkläre ich jungen Menschen, was wir damals in unserer Jugend erlebt haben. Außerdem habe ich drei Bücher über den Widerstand gegen die Nationalsozialistengeschrieben.
„Ich finde es erschreckend, dass sich junge Menschen der AfD anschließen“
Ich finde es erschreckend zu sehen, dass sich heute auch junge Menschen der AfD anschließen. Es gibt dafür eine einfache Erklärung: Viele wollen nicht akzeptieren, dass das Leben schwierig ist. Wir leben in einer unsicheren Welt. Menschen sehnen sich dagegen nach Zugehörigkeit und Sicherheit, nach einfachen Lösungen. Das alles verspricht die AfD. Aber es sind falsche Versprechungen.
Wenn ich vor Klassen stehe, versuche ich den jungen Menschen zu vermitteln, dass sie die Verantwortung für unsere Gesellschaft nicht an andere abgegeben dürfen. Schuld sind nicht die Politiker oder das Internet. Demokratie bedeutet, selbst Verantwortung zu übernehmen, sich zu informieren, politisch zu debattieren, zu reflektieren und Mitgefühl für andere zu zeigen.
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Meine Mutter hat immer den Standpunkt vertreten, dass unser Vater zwar das Richtige getan hat, es uns Kinder aber nichts angeht. Sie hat uns stattdessen ermutigt, darauf zu schauen, dass wir selbst das Richtige zu tun. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Ich bin meiner Mutter heute sehr dankbar, dass sie meinen Vater nie idealisiert hat. Ich hinterfrage sein Handeln von damals ebenfalls kritisch, möchte nicht, dass er glorifiziert wird. Mein Vater wollte Hitler stoppen, aber er war nicht perfekt.
„Gegen die AfD auf die Straße zu gehen allein bringt nichts.“
Menschen entwickeln sich. Das Leid der anderen kann die eigene Einstellung verändern. Aber dafür muss man im Gespräch bleiben und sich und sein Handeln immerfort reflektieren.
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Das wünsche ich mir auch von der heutigen Gesellschaft. Wenn ich vor Schulklassen stehe und über die damalige Zeit spreche, sind die meisten Schüler erst einmal betroffen. Das ist ein wichtiger Teil der Auseinandersetzung mit der Geschichte. Doch mir fehlt die Reflektion über diese unmittelbare Reaktion hinaus: Was von den Dingen, die damals passiert sind, trage ich heute mit mir herum? Was hätte ich damals getan? Und was tue ich heute?
Die meisten Menschen beschäftigen sich nicht sehr intensiv mit der deutschen Geschichte, sie bleiben im Blick zurück und auf sich selbst oberflächlich. Das ist gefährlich. Gegen die AfD auf die Straße zu gehen allein bringt nichts. Es ist wichtig, dass die Menschen darüber sprechen, warum sie auf die Straße gehen.
Den Menschen gebe ich mit, dass ich auch nicht alles weiß. Es ist okay, nicht alles zu wissen. Aber es ist wichtig, nicht mit Scheuklappen durchs Leben zu gehen, aus der eigenen Blase auszubrechen. Klar, das klappt nicht von heute auf morgen. Aber was bedeutet Widerstand? Für mich bedeutet das, mich für andere einzusetzen. Empathie.“
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